Abdullah Öcalans Kolumnen in "il manifesto" und "Gara"

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Die Revolution ist weiblich

von Abdullah Öcalan

Über die Frauenfrage nachzudenken und zu schreiben, bedeutet, die gesamte Geschichte und Gesellschaft infrage zu stellen. Grund hierfür ist das beispiellose Ausmaß der systematischen Ausbeutung der Frau.

Aus diesem Blickwinkel lässt sich die Zivilisationsgeschichte als eine Verlustgeschichte der Frau definieren. Im Laufe dieser Geschichte – der Geschichte von Gott und seinen Knechten, von Herrschern und Untertanen, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kunst – etablierte sich die patriarchale Persönlichkeit des Mannes. Dabei verlor die gesamte Gesellschaft; die sexistische Gesellschaft war das Ergebnis.

Sexismus ist Machtinstrument und Waffe zugleich, die im Laufe der Geschichte in allen Zivilisationssystemen dauerhaft zum Einsatz kamen. Tatsächlich wurde keine gesellschaftliche Gruppe derart physisch und psychisch ausgebeutet wie die Frau. Die Vielgestaltigkeit der Ausbeutung der Frau ist augenfällig. Die Frau produziert Nachkommen. Sie dient als kostenlose Arbeitskraft. Ihr fallen die Arbeiten zu, die niemand verrichten will. Sie ist fügsame Sklavin. Sie ist permanent Objekt sexueller Begehrlichkeiten. Sie ist Mittel zur Werbung. Sie ist eine wertvolle Ware, ja, sie ist geradezu die Königin unter den Waren. Sie bildet die Basis, auf dem der Mann seine Macht als kontinuierliches Instrument der Vergewaltigung produziert und reproduziert. Daher lässt sich die fünftausendjährige Zivilisationsgeschichte in zutreffender Weise auch als „Vergewaltigungskultur“ umschreiben.

Im Zeitalter des Kapitalismus wurde der Sexismus als ideologisches Instrument besonders perfide eingesetzt. Der Kapitalismus, der die sexistische Gesellschaft übernahm, begnügt sich nicht damit, die Frau nur als kostenlose Arbeitskraft im Haus einzusetzen. Er verwandelt sie in ein Sexualobjekt, macht sie zur Ware, die er auf dem Markt feil bietet. Während der Mann nur seine Arbeitskraft verkauft, wird die Frau physisch und psychisch vollständig zur Ware. Auf diese Weise entsteht die gefährlichste Form der Sklaverei. Das System weist der Herrschaft über die Frau eine strategische Rolle im Zusammenhang der Ausbreitung von Ausbeutung und Herrschaft zu. Indem die traditionelle Repression gegen die Frau ausgeweitet wird, verwandelt sich jeder Mann in einen Teilhaber der Macht. Die Gesellschaft wird so vom Syndrom der totalen Ausweitung von Herrschaft befallen. Der Status der Frau verleiht der patriarchalen Gesellschaft sowohl das Gefühl als auch das Konzept grenzenloser Herrschaft.

Die Frau als biologisch unvollständiges Geschlecht zu betrachten, ist reine Ideologie und ein Ausfluss patriarchaler Mentalität. Diese Doktrin ist Bestandteil sämtlicher wissenschaftlicher, ethischer und politischer Anstrengungen, ihren Status als natürlich darzustellen. Traurig ist, dass auch die Frau selbst daran gewöhnt wurde, dieses Paradigma als gegeben hinzunehmen. Die Natürlichkeit und sakrale Unantastbarkeit dieses vermeintlich minderwertigen Status, der seit Jahrtausenden manchen Völkern zugeschrieben wird, gilt um so mehr für die Frau und prägt ihr Denken und Verhalten. So müssen wir uns stets vergegenwärtigen, dass keine Volksgruppe, keine Klasse und keine Nation derart systematisch versklavt wurde wie die Frau. Die Geschichte der Sklaverei der Frau ist noch nicht geschrieben. Und auch die Geschichte der Freiheit wartet noch auf ihre Autorinnen.

Durch die Gewöhnung der Frau an die Sklaverei wurden Hierarchien etabliert und der Weg frei gemacht für die Versklavung anderer Teile der Gesellschaft. Die Sklaverei des Mannes folgte erst auf die Sklaverei der Frau. Der Unterschied der geschlechtsabhängigen Sklaverei zur Sklaverei einer Klasse oder Nation liegt darin, dass sie neben massiver und subtiler Repression auch durch emotional aufgeladene Lügen gewährleistet wird. Erst die Ausbreitung der Sklaverei der Frau in die gesamte Gesellschaft bereitete den Boden für alle weiteren Arten von Hierarchien und staatliche Strukturen. Dies war nicht nur für die Frau verheerend, sondern, mit Ausnahme einer kleinen Gruppe hierarchischer und etatistischer Kräfte, für die gesamte Gesellschaft.

Daher führt kein Weg an einer tiefgreifenden Kritik der patriarchalen Ideologien und der darauf beruhenden Institutionen vorbei. Einer der wichtigsten Bausteine dieses Systems ist die Institution der Familie. Die Familie ist als kleiner Staat des Mannes konzipiert. Die Bedeutung der Familie während der gesamten Zivilisationsgeschichte liegt in der Stärke, die sie den Herrschenden und dem Staatsapparat verleiht. Die Ausrichtung der Familie auf die männliche Herrschaft und ihre dadurch erreichte Funktion als Keimzelle der etatistischen Gesellschaft garantieren, dass die Frau unbegrenzt nicht entlohne Arbeit verrichtet. Gleichzeitig zieht sie Kinder groß, befriedigt den staatlichen Bedarf an ausreichender Population und sorgt als Vorbild für die Ausbreitung der Sklaverei in die gesamte Gesellschaft.

Ohne ein Verstehen der Familie als Mikromodell des Staates ist eine kompetente Analyse der mittelöstlichen Zivilisation nicht möglich. Der Mann des Mittleren Ostens, der auf ganzer Linie verloren hat, kompensiert dies an der Frau. Je mehr er im öffentlichen Raum gedemütigt wird, desto mehr richtet sich seine daraus resultierenden Aggressionen gegen die Frau. Der Mann, hilflos und wütend, da er seine Gesellschaft nicht verteidigen kann, benimmt sich in der Familie wie ein Tyrann und wendet sich gewalttätig gegen Frau und Kinder. Mit den so genannten „Ehrenmorden“ versucht der Mann, der zulässt, dass im gesellschaftlichen Raum alle seine Werte mit Füßen getreten werden, seine Wut an der Frau zu stillen.

Bezüglich der Gesellschaften des Mittleren Ostens muss ich hinzufügen, dass die traditionellen Einflüsse der patriarchalen und etatistischen Gesellschaft keine Synthese mit den Einflüssen moderner Formen der westlichen Zivilisation eingegangen sind, sondern vielmehr ein Konglomerat bilden, das mit einem gordischen Knoten vergleichbar ist.

Die Begriffe von Macht und Herrschaft anhand des Mannes zu analysieren, gestaltet sich äußerst schwierig. Es ist weniger die Frau, die sich einer Veränderung verweigert, sondern vielmehr der Mann. Sich von der Rolle des herrschenden Mannes zu verabschieden, lässt den Mann wie einen Herrscher fühlen, der seinen Staat verloren hat. Deshalb müssen wir ihm zeigen, dass es gerade diese hohle Herrschaftsform ist, die ihm selber die Freiheit raubt und ihn zum Reaktionär macht.

Derartige Analysen sind mehr als nur theoretische Feststellungen, denn sie besitzen existenzielle Bedeutung für den kurdischen Befreiungskampf. Die Freiheit des kurdischen Volkes sehen wir untrennbar verbunden mit der Freiheit der Frau, weswegen wir uns dementsprechend organisiert haben. Wenn heute trotz aller Angriffe imperialer Mächte und lokaler reaktionärer Kräfte unser Freiheitsstreben nicht zerschlagen ist, so besitzt daran die Freie Frauenbewegung [Free Women's Movement] und das von ihr geschaffene Bewusstsein einen großen, unschätzbaren Anteil. Für uns kann es ohne die freie Frau kein freies Kurdistan geben.

Diese philosophische und soziale Sichtweise ist keineswegs ein taktisches politisches Manöver, um die Frau in den Kampf einzubinden. Unser Ziel ist der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, in dessen Rahmen der Mann einer Veränderung unterzogen wird. Ich denke, dass wir in der Analyse unsrer bisherigen Kampfpraxis den verwöhnten, herrischen, unterdrückenden und ausbeutenden Mann in der patriarchalen Gesellschaft zu fassen bekommen haben. Dies war die adäquateste Antwort, die ich auf das Freiheitsstreben der Frau finden konnte: den patriarchalen Mann zu fassen, ihn analysieren und ihn „töten“. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Ich wage es, den Mann als friedliebende Persönlichkeit neu zu entwerfen. Der klassische Mann wird analysiert und „getötet“, der Liebe und dem Frieden der Weg geebnet. In diesem Sinne betrachte ich mich selbst als Arbeiter im Befreiungskampf der Frau.

Der Geschlechterwiderspruch hat eine 5000-jährige Geschichte und stellt den grundlegenden Widerspruch des 21. Jahrhunderts dar. Die Frau leistet heftigen Widerstand. Diesem Kampf ist es zu verdanken, dass heute die Problematik sichtbar ist. Auch in der Geschichte gab es herausragende Frauenpersönlichkeiten, die durch ihr Leben, ihr Denken und ihr Handeln beeindruckten. Dieser Widerstand der Frauen zeigt uns eines: Ohne den Kampf gegen die patriarchale Ideologie und Moral, ihren gesellschaftlichen Einfluss und gegen patriarchale Individuen können wir ein freies Leben nicht erringen und auch keine wahrhaft demokratische Gesellschaft aufbauen – also auch nicht den Sozialismus verwirklichen. Die Völker verlangen nicht nur nach Demokratie, sondern nach einer demokratischen Gesellschaft ohne Sexismus. Ohne die Gleichheit der Geschlechter ist jede Forderung nach Freiheit und Gleichheit sinnlos und illusorisch. So, wie die Völker ein Selbstbestimmungsrecht besitzen, so sollten auch die Frauen ihr Schicksal selbst bestimmen. Dies ist keine Frage, die zurückgestellt und aufgeschoben werden kann. Im Gegenteil wird bei der Formierung einer neuen Zivilisation die Freiheit der Frau für die Herstellung von Gleichheit wesentlich sein. Im Gegensatz zu den Erfahrungen im Realsozialismus und bei nationalen Befreiungskämpfen halte ich die Befreiung der Frau für bedeutender als die Befreiung der Klasse oder der Nation.

Aus der Erfahrung unseres Kampfes weiß ich, dass der Befreiungskampf der Frau, sobald er den Bereich des Politischen betritt, mit äußerst heftigen Widerständen konfrontiert ist. Doch ohne im politischen Raum zu siegen, kann es keine bleibenden Errungenschaften geben. Ein Sieg im politischen Bereich heißt dabei nicht, dass die Frau die Macht übernimmt. Ganz im Gegenteil bedeutet der Kampf gegen etatistische und hierarchische Strukturen, solche Strukturen zu schaffen, die sich nicht an einem Staat orientieren und zu einer demokratischen und ökologischen Gesellschaft mit Freiheit für die Geschlechter führen. So wird nicht nur die Frau, sondern die gesamte Menschheit gewinnen.

Übersetzung: Internationale Intitiative, zuerst erschienen in "Gara"

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Eine Verschwörung gegen den Frieden

von Abdullah Öcalan

In ihrer Geschichte war die Menschheit oft Zeuge von politischen Verschwörungen und Intrigen. Seit Urzeiten nutzen herrschende Mächte Verschwörungen als ein Mittel zum Machterhalt. Dafür finden sich zahlreiche Beispiele, ob bei den Sumerern oder auch im Römischen Reich. Dies bildet den historischen Hintergrund für die Verschwörungen, denen das kurdische Volk oftmals zum Opfer fiel.

Die internationale Verschwörung, die zu meiner Entführung am 15. Februar 1999 in die Türkei führte, halte ich für eines der wichtigsten Ereignisse in der intriganten Tradition der herrschenden Mächte. Meine Odyssee durch Europa begann am 9. Oktober 1998 mit meiner Ausreise aus Syrien. Sie führte mich nach Athen, Russland und Italien. Von dort aus war ich gezwungen, wieder nach Russland und von dort aus nach Griechenland zurückzukehren. Ihr Ende fand sie mit meiner Entführung aus Kenia. Ich rede von einer internationalen Verschwörung, weil der gesamte Vorgang, an dem eine Koalition von Mächten vierer Kontinente beteiligt war, außer politischen Ränkespielen und wirtschaftlichen Interessen auch eine komplexe Gemengelage aus Verrat, Gewalt und Täuschung enthielt.

Obwohl seither elf Jahre vergangen sind, glaube ich, dass diese internationale Verschwörung, die sich in meiner Person gegen das kurdische Volk richtete, auch heute noch von Interesse ist. Ihre Ursachen und Folgen zu verstehen kann zur Erhellung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse beitragen.

Das primäre Ziel des Hauptakteurs, der USA, war zweifellos, unsere Befreiungsbewegung zu liquidieren. Die USA beabsichtigten mit ihrem Greater Middle East Project den Nationalismus zu schüren und neue kleine Nationalstaaten zu schaffen, um den Mittleren Osten noch auf Jahrzehnte hinaus beherrschen zu können. In einem solchen Projekt ist natürlich kein Platz für Befreiungsbewegungen. Daher besteht eine direkte Verbindung zwischen ihrem Greater Middle East Project und meiner Auslieferung an die Türkei. Die Ereignisse seit 2003 bestärken mich in dieser Ansicht. Gegenüber einem Mächtegleichgewicht, das nur die Wahl zwischen herrschenden internationalen Mächten oder regionalen reaktionären Kräften lässt, verkörpern wir einen dritten Weg, eine wirkliche Alternative, was uns zur Zielscheibe für ideologische und politische Angriffe macht.

Neben diesem Hauptanliegen waren zwei weitere Ziele von Relevanz. Einerseits erhoffte man sich von meinen Tod oder meiner Reaktion auf die Auslieferung eine Ethnisierung des Konflikts, d.h. einen Krieg zwischen Türken und Kurden an sich. Das, was wir heute im Irak beobachten, war eigentlich für die Türkei vorgesehen. Durch eine Schwächung auf allen Ebenen – politisch wie wirtschaftlich – sollte die Türkei vollständig an die USA gebunden werden. Mein besonnenes Handeln und Eintreten für eine friedliche Lösung vereitelte diesen Plan. Eine „Irakisierung“ der Türkei konnte verhindert werden. Mit all meinen Kräften setzte ich mich für eine friedliche Lösung ein. Ich tat dies freiwillig, weil ich überzeugt war, dass nur dies im Interesse der Völker liegt. Aber auch, weil ich mir immer eine unabhängige und freiheitliche Haltung bewahrt habe. Gerade das war der Grund, warum wir ihnen ein Dorn im Auge waren. Die kurdische Freiheitsbewegung hat ihren zwanzigjährigen Kampf stets als Verteidigung der Geschwisterlichkeit des türkischen und kurdischen sowie aller Völker des Mittleren Ostens verstanden. Stets verfolgte sie dabei das Ziel einer demokratischen Einheit. Dabei stützen wir uns auf unsere eigene Kraft und unseren eigenen freien Willen. Sorgsam waren wir immer darum bemüht, unsere eigene Souveränität zu bewahren. Aus diesem Grunde setzte ich unsere seit 1993 betriebene Politik einer demokratischen und friedlichen Lösung trotz der äußerst kritischen Situation fort. Dies entsprach unserer Linie; es war unsere Antwort auf die Verschwörung. Wenn sie also ihr Ziel nicht vollständig erreichen konnte, ist dies in Hauptsache unserer Friedensstrategie für eine demokratische Lösung geschuldet.

Anderseits hatte die genannte politische Verschwörung auch eine wirtschaftliche Dimension. Stets habe ich darauf hingewiesen, dass das Erdgaspipeline-Projekt Blue Streams, welches Bestandteil dieses ökonomischen Beziehungsgeflechts ist, besonders beleuchtet werden muss. Blue Stream ist eine große Pipeline, welche russisches Gas unter dem schwarzen Meer hindurch in die Türkei befördert. Kürzlich erfuhr ich durch meine Anwälte von einem Artikel in einer türkischen Zeitung, in dem ein damals führender Beamter zugab, dass dieses Projekt, welches aufgrund für die Türkei ungünstiger Konditionen gestoppt worden war, nach meiner Ausweisung aus Russland am 12. November 1998 auf Anweisung der türkischen Regierung plötzlich umgesetzt wurde. Dies habe das Schicksal für dieses Projekt gewendet. Weiter führte dieser Beamte aus, dass nach meiner Ausreise aus Italien die italienische Firma Eni an dem Projekt beteiligt wurde. Allein dieses Beispiel zeigt, wie im Zusammenhang mit meiner Person auf dem Rücken des kurdischen Volkes wirtschaftliche Abkommen geschlossen werden. Sicherlich reichen diese schmutzigen Beziehungen noch wesentlich weiter als bisher aufgedeckt werden konnte.

Die europäischen Staaten behaupten immer wieder, Demokratie und Menschenrechte zu repräsentieren. Dass sie mir jedoch alle Türen versperrten und keinen wirklichen Versuch unternahmen, eine konstruktive Rolle bei der Lösung der kurdischen Frage zu spielen, sondern sich vielmehr den USA und der NATO beugten und so als Schauplatz der Verschwörung einen unglücklichen und dramatischen Part übernahmen, demonstrierte ein weiteres Male das wahre Gesicht des europäischen Systems.

Die griechische Regierung spielte in diesem Zusammenhang eine ganz besondere Rolle. Als ich auf Einladung einiger Freunde nach Griechenland kam und unter Bruch nationalen und internationalen Rechts nach Kenia entführt wurde, zeigte sich, dass diesem Land die schmutzigste Rolle zugeteilt worden war. Hier zeigten sich am deutlichsten die Lügen, der Verrat und die Heuchelei, welche den Begriff der Verschwörung ausmachen.

Italien dagegen verhielt sich im Vergleich zu den anderen Ländern ein wenig positiver. Doch auch dort wurde ich abgeschirmt und es wurde alles unternommen, um mich loszuwerden. So glaube ich, dass während meines Aufenthalts in Rom eine Einheit der Gladio, gegen welche die italienische Regierung machtlos war, eine entscheidende Rolle spielte. Die italienische Regierung besaß also nicht das nötige Selbstvertrauen und die nötige Stärke, um selbst zu entscheiden. Trotzdem muss ich positiv festhalten, dass sie im Gegensatz zur griechischen Regierung die gesamte Entwicklung nach meiner Ankunft im Rahmen des Rechts behandelte.

Noch einmal möchte ich betonen, dass ich alles dafür tun will, diesen Machenschaften Frieden und eine demokratische Lösung entgegenzusetzen. Dass die Türkei wie in der Vergangenheit auf unsere Friedensbemühungen nicht reagiert sondern eine Strategie verfolgt, die auf die Liquidierung der Befreiungsbewegung setzt, können wir auch als Fortsetzung der internationalen Verschwörung interpretieren. Insofern ist die Strategie von Frieden und Demokratie nicht nur für die Kurden, sondern für alle Völker des Mittleren Ostens wichtig.

Die damaligen Verschwörer, die nationalen und internationalen reaktionären Kräfte, halten nach wie vor die Fäden in der Hand. Doch auch die Kräfte, die den Kampf für Demokratie und Freiheit führen, werden genauso wie das kurdische Volk diesen Kampf fortsetzen und auf ihrem Weg entschlossen und voller Überzeugung weiter voranschreiten. Das Ausmaß dieser Verschwörung hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass die Unterdrückten und die Völker der Welt der „globalen Offensive“ des Kapitalismus ihre eigene „globale Demokratie“ entgegensetzen und diese Position weiter stärken. Dazu stehe ich damals wie heute.

Übersetzung: Internationale Intitiative, zuerst erschienen in "il manifesto"

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Presseerklärung

Redaktion il manifesto

Am 9. Januar hat Il Manifesto einen Artikel des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan veröffentlicht. Man hat uns gefragt, wie wir ihn erhalten haben, und so angesichts der Haftbedingungen Öcalans dessen Authentizität infrage gestellt. Als Journalisten sind wir verpflichtet, unsere Quellen zu schützen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass Öcalans Texte weder durch die normale Post noch per E-mail nach Italien gelangen.

Manche beschuldigen uns, ein Sprachrohr für Terroristen zu sein. Jeder und jede kann über Öcalan wie über jede andere Person denken, was er oder sie will. Il Manifesto hat traditionell Menschen das Wort gegeben, die einige „unbequem“ fanden, andere als „Terroristen“ abstempelten. In der jüngeren Vergangenheit haben der Vorsitzende von Sinn Féin, Gerry Adams, und sein Stellvertreter, Martin McGuinnes, in dieser Zeitung geschrieben, um über den Frieden zu reden und ihre Vorschläge für einen gerechten und dauerhaften Frieden im Norden Irlands zu erläutern. Viele hielten Gerry Adams für nichts weniger als den Teufel. Martin McGuinnes (als IRA-Kommandant) war noch schlimmer. Heute ist Martin McGuinness der stellvertretende Ministerpräsident einer von Unionisten geführten Regierung. Natürlich bedeutet Frieden mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg, und der Norden Irlands steht vor vielen Problemen. Doch heute werden diese Probleme benannt und über mögliche Lösungen diskutiert, am Tisch und nicht mit Waffen. Auch Nelson Mandela wurde als Terrorist betrachtet. Doch der Frieden in Südafrika konnte nur geschaffen werden ausgehend vom Dialog mit denen, die als „Feinde“ betrachtet wurden.

Die kurdische Frage ist 1998 in Italien gelandet, als Öcalan selbst in Rom eintraf und nur eines im Sinn hatte: die Problematik des kurdisch-türkischen Konflikts in das Herz Europas zu tragen. Wir haben es immer wieder geschrieben: Damals vergab Europa eine Gelegenheit, zur Suche nach einer friedlichen Lösung für diesen Konflikt etwas beizutragen.

Deswegen haben wir am 9. Januar 2010 Abdullah Öcalans Artikel veröffentlicht, und wir werden weiterhin seine Artikel publizieren in der Gewissheit, dass dies ein kleiner Schritt auf dem schwierigen Weg zum Frieden sein könnte.

Übersetzung: Internationale Intitiative, zuerst erschienen am 9. Januar 2010 in "il manifesto"

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Einen gerechten Frieden für die Kurden

von Abdullah Öcalan

Ich grüße voller Respekt alle Leser und alle Freundinnen und Freunde in Italien. Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeitern von „il manifesto“, die mir die Möglichkeit geben, meine Ansichten auf diesem Wege zu veröffentlichen.

Italien besitzt für mich eine besondere Bedeutung. Nicht nur, weil mich der Weg auf der Suche nach einer demokratischen Lösung für die kurdische Frage 1998 nach Rom geführt hat, sondern auch wegen meiner Hochachtung vor der italienischen Geschichte und den Befreiungskämpfen, die dort geführt worden sind. In meinem jüngsten Buch mit dem Titel „Die Demokratisierung der Mittelöstlichen Kultur“ habe ich dem Thema einige Seiten gewidmet. Ich werde hoffentlich Gelegenheit finden, diese künftig mit der Leserschaft zu teilen, selbst wegen der Isolationshaft vielleicht nicht immer die Möglichkeit zu einer direkten Kommunikation besteht.

Über die internationale Verschwörung, durch die ich von Rom schließlich auf die Insel Imrali gelangt bin, möchte ich zu einem späteren Zeitpunkt schreiben. Dabei wird es nicht nur um die historische Bedeutung dieses Vorgangs für die Kurden gehen, sondern auch um die Machtstrukturen des globalen Systems und den Charakter der internationalen Beziehungen. Ich denke, dass dies auch den fortschrittlichen Teil der europäischen Öffentlichkeit interessieren könnte.

Ich selbst habe aus meiner dreimonatigen Odyssee, die mich über Athen, Moskau und Rom führte, historische Lehren gezogen. Der zentrale Begriff in meinen jüngsten Büchern ist die „kapitalistische Moderne“. Diese habe ich bei diesem Abenteuer zusammen mit ihren 1001 Masken und Rüstungen aus nächster Nähe kennen gelernt. Wenn dies nicht gewesen wäre, hätte ich niemals die Konsequenzen gezogen, die ich gezogen habe. Ich wäre vielleicht einem simplen, staatsfixierten Nationalismus verhaftet geblieben oder wäre als Teil einer klassischen linken Bewegung geendet wie so viele vor mir. Als sozialwissenschaftlich denkender Mensch möchte ich keine absoluten Feststellungen treffen, doch ich gehe davon aus, dass ich nie zu meinen jetzigen Analysen hätte kommen können.

Ich möchte eine grundlegende Schlussfolgerung betonen. Die eigentliche Kraft der kapitalistischen Moderne liegt weder in ihrem Geld noch in ihren Waffen. Die Fähigkeit, alle Utopien einschließlich des Sozialismus, der jüngsten und stärksten Utopie, gleich einem Zauberer im eigenen Liberalismus zu ersticken, stellt ihre eigentliche Stärke dar. Solange wir nicht erklären können, wie sie die gesamte Menschheit in den Sog des Liberalismus zieht, kann auch die selbstbewussteste Denkschule nicht mehr sein als ein Lakei des Kapitalismus, geschweige denn ihn bekämpfen. Gemeinsam mit dem kurdischen Volk kämpfe ich nicht nur um unsere Identität und unsere Existenz. Unser Kampf richtet sich ebenso gegen die erdrückende herrschende Ideologie der kapitalistischen Moderne und versucht, von Mesopotamien, der Wiege der Menschheit aus, einen Beitrag zur Schaffung einer Alternative zu leisten, die wir „demokratische Moderne“ nennen.

Das Bemühen des türkischen Staates, im Zuge der globalen Terrorismusparanoia unseren demokratischen Kampf als „terroristisch“ zu brandmarken, ist für uns nicht mehr als das altbekannte Propagandaspiel. Denn die Mentalität des türkischen Staates, dem kurdischen Volk bis heute die grundlegenden Menschenrechte zu verweigern, ähnelt mehr als nur ein wenig der autoritären, gleichmachenden faschistischen Mentalität, die im 20. Jahrhundert in Deutschland und Italien Fuß gefasst hatte.

Noch heute betreibt der türkische Staat gegen die Kurden einen politischen, ökonomischen und kulturellen Völkermord. Das kurdische Volk leistet dagegen einen erbitterten und organisierten Widerstand.

Gegen den chauvinistischen und faschistoiden Nationalismus, der mittlerweile überall, wo Kurden leben, eine Lynchkultur hervorbringt, setze ich auch weiterhin die Suche nach einer friedlichen und demokratischen Lösung. Von 1993 bis heute habe ich in dieser Hinsicht eine Vielzahl von Vorschlägen unterbreitet und praktische Schritte unternommen. Der trotz aller Angriffe auch im Krisenjahr 1999 gehaltene Waffenstillstand, der Rückzug der Guerilla vom Territorium der Türkei und die symbolischen Friedensdelegationen aus Europa und den Kandil-Bergen waren nur ein kleiner Teil dieser Friedensbemühungen. Dass auch im Jahr 2009 die Waffen in ähnlicher Weise einseitig schwiegen und eine Guerilladelegation aus den Kandilbergen in die Türkei kam, mag als Beleg für die Kontinuität und Beharrlichkeit meiner Friedensbemühungen dienen.

Trotz alledem hat sich die Haltung des türkischen Staates leider nicht geändert. Immer noch werden unserer Friedensbemühungen gering geschätzt und als Zeichen der Schwäche ausgelegt. Immer noch finden militärische Operationen und Angriffe auf die Bevölkerung statt. Immer noch rufen alle staatlichen Institutionen wie aus einem Mund: „Liquidiert sie!“ Die hinterhältigsten Täuschungmanöver nutzt dabei die heutige AKP-Regierung, die den europäischen Staaten gegenüber so tut, als bemühe sie sich um eine Demokratisierung und die Lösung der kurdischen Frage.

Dieselbe Regierung hat die Gesetze geschaffen, die dazu führen, dass die türkischen Gefängnisse voll mit kurdischen Kindern sind und wie kürzlich in Şırnak für fünf Kinder 305 Jahre Haft beantragt werden können. Dank derselben Regierung konnte die Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) verboten werden. Dieselbe Regierung lässt die Kurden demütigen, indem sie die gewählten kurdischen Bürgermeister in Handschellen abführen lässt und damit Bilder produziert, die an den Abtransport in Konzentrationslager erinnern.

Das kurdische Volk wird niemals aufhören, für seine grundlegenden Rechte zu kämpfen. Es wird sich weiter organisieren, um seine Würde und ein Leben in Freiheit anzustreben. Diese Freiheit wird es erlangen, indem es mit demokratischen Mitteln kämpft, sich aber auch das Recht auf legitime Selbstverteidigung vorbehält. Daran habe ich nicht die geringsten Zweifel.

Am Ende dieses ersten Artikels am Beginn eines neuen Jahres wünsche ich dem italienischen Volk ein frohes Jahr 2010. Möge dieses Jahr zur Befreiung der unterdrückten Völker, Klassen und Geschlechter beitragen.

Übersetzung: Internationale Intitiative, zuerst erschienen am 9. Januar 2010 in "il manifesto"

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