--------------------------------------------------------------------------------
© 2002 der deutschen Übersetzung: Internationale Initiative
"Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan".
Veröffentlichung und Vervielfältigung
nur unter ausdrücklicher Nennung der Internationalen Initiative
"Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan"
--------------------------------------------------------------------------------
VERSCHWÖRUNG UND KRISE
Die Türkei und die kurdische Frage:
Von den Neunzigern bis heute
Am Beginn des Jahres 2002 gibt es viele Anzeichen dafür, dass
die kurdische Frage erneut zu einem herausragenden Thema in der
internationalen Mediendiskussion wird. Gerede über einen bevorstehenden
Angriff der USA auf den Irak hat die kurdischen Parteien des Nordirak
jetzt zu einem beliebten Thema "möglicher strategischer
Szenarien" in der ‚New York Times' oder ‚Washington
Post' gemacht. Andererseits wird die Türkei mit ihrer großen
kurdischen Bevölkerung und notorischen Menschenrechtsproblemen
heftig umschmeichelt als Schlüsselfigur im Spiel der Kräfte
vor einer Intervention, während ein Abkommen mit dem Internationalen
Währungsfond (IWF) die Bevölkerung der Türkei durch
unvernünftig hohe Steigerungen der Verbraucherpreise in Atem
hält.
Vor einem türkischen Staatssicherheitsgericht wird über
das Buch eines Amerikaners verhandelt, der den amerikanischen Interventionismus
kritisiert. Der Ausgang der Verhandlung könnte davon abhängen,
welche Richtung der amerikanische Interventionismus im Mittleren
Osten tatsächlich am Ende einschlagen wird. Andererseits sind
ohne Zweifel die internen Entwicklungen in der Türkei von Bedeutung,
der Kampf um Demokratisierung, Grundrechte und Freiheiten in der
Türkei selbst.
In der folgenden Skizze soll der Versuch gemacht werden, die dynamische
Verflechtung dieser beiden Faktoren zu betrachten.
DIE VERGANGENHEIT
Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), wurde 1978 gegründet. 1984
begann sie einen bewaffneten Guerillakrieg gegen die Türkei
im Anschluss an den Höhepunkt des Militärregimes, das
1980 die Macht ergriffen hatte. Trotz der wohlbekannten Menschenrechtsverletzungen
an Kurden, die in großem Umfang stattgefunden haben und stattfinden,
haben sich die Westmächte immer nur zögerlich auf die
Klagen der Kurden eingelassen. Die PKK ist heute in Deutschland,
Grossbritannien und den USA als Terror-Organisation (1) verboten.
Obwohl die Lage der Kurden kurzzeitig am Ende des Krieges gegen
den Irak zum Medienereignis wurde, hatte die "neue Weltordnung"
den Kurden nicht viel zu bieten - einem Volk von vielleicht vierzig
Millionen - und heute sind sie immer noch weit davon entfernt, in
irgendeinem der Länder, in denen sie einen beträchtlichen
Anteil an der Bevölkerung bilden, in Gleichheit und Freiheit
zu leben: Nicht in der Türkei, noch in Iran, Irak oder Syrien.
Im Oktober 1988 hatte der Prozess des Aufbaus der "neuen Weltordnung"
im Mittleren Osten einen Punkt erreicht, der es der Türkei
erlaubte, erhebliche militärische Kräfte an der Grenze
zu Syrien zu konzentrieren, wo sich seit ein paar Jahren der Aufenthaltsort
des Führers der politisch-militärischen Organisation PKK,
Abdullah Öcalan, befand. Diese Truppen drohten offen damit,
nach Damaskus zu marschieren, falls Syrien sich weigere, Abdullah
Öcalan innerhalb von ein paar Tagen auszuweisen. Dieser kriegerische
Auftakt einer internationalen Jagd auf den Kurdenführer war
zweifellos eine eigenartige Antwort auf den einseitigen Waffenstillstand,
den dieser am 1. September 1998 vor dem Hintergrund des langen Kampfes
der Organisation für eine friedliche und demokratische Lösung
der kurdischen Frage erklärt hatte; noch war dies das erste
Mal, dass ein Zeichen guten Willens von Seiten der kurdischen Bewegung
öffentlich von der türkischen Regierung zurückgewiesen
wurde. Ebenso wenig war es überraschend, dass Regierungsoffizielle
anscheinend heimlich eine Nachricht an die Führung der PKK
geschickt hatten des Inhalts, die Türkei sei bereit, den Kriegspfad
zu verlassen, wenn die Aufständischen den ersten Schritt täten,
nur um dann die positive Antwort der Kurden als taktischen Vorteil
für verstärkte militärische und geheimdienstliche
Anstrengungen zu nutzen.
In seiner Verteidigungsschrift, die er dem Staatssicherheitsgericht
in Ankara im Juni 1999 vorlegte, macht Abdullah Öcalan deutlich,
dass die PKK bereits 1993 zum ersten Mal einen einseitigen Waffenstillstand
erklärt habe, als die gemäßigte Politik des liberalen
Präsidenten Turgut Özal einen Funken Hoffnung aufkommen
ließ, dass der Konflikt zwischen PKK und türkischem Staat
friedlich beigelegt werden könne. Auf einer Pressekonferenz
in der libanesischen Stadt Bar Elias wandte sich Abdullah Öcalan
am 17. März 1993 mit folgenden Worten an die türkische
Seite:
"Lasst uns den Krieg endlich beenden. Krieg ist Folter für
mich. Es ist Sache des türkischen Staates, mir diese Folter
zu ersparen, indem er unsere Geste des guten Willens beantwortet.
Wir haben nicht die Absicht, uns bei erster Gelegenheit von der
Türkei zu trennen. Wir sind dafür, zusammenzuleben in
einer brüderlichen Beziehung auf der Basis politischer und
militärischer Gleichheit. Wenn dies durch eine neue Verfassung
garantiert würde, dann wären wir bereit, unseren Kampf
auf die politische Ebene zu verlagern."
Obwohl die türkische Armee zunächst mit einer Waffenruhe
antwortete, begann sie schon bald erneut eine Offensive und tötete
etwa 100 Guerillas und Zivilisten, sperrte Hunderte anderer Menschen
ein und nahm die Zerstörung von Häusern wieder auf. Im
Gefolge dieser Angriffe ging eine Gruppe von PKK-Kämpfern eigenmächtig
dazu über, den Waffenstillstand zu missachten, als sie einen
Bus mit türkischen Soldaten außerhalb des Kampfgebietes
angriffen und 33 Menschen töteten. Das Angebot der PKK, diesen
Vorfall zu untersuchen, wurde von der Regierung abgelehnt. Diese
Folge von Ereignissen hätte auch anders verlaufen können,
wenn Präsident Turgut Özal und der Kommandeur der Gendarmerie,
General Esref Bitlis, sowie einige andere Offiziere und Beamte,
die den Kriegskurs der Regierung öffentlich kritisiert hatten,
nicht während des Waffenstillstandsprozesses, den sie zunächst
gutgeheißen hatten, auf höchst dubiose Weise einem vorzeitigen
und plötzlichen Tod erlagen. Mit einer neuen Gruppe von Führungsfiguren
in dem dauernd kriegslustigen Regime kündigte sich die Abkehr
von dem beginnenden Friedensprozess und die Wiederaufnahme der militärischen
Offensive an, die schon nach kurzer Zeit eskalierte in die bekannte
und berüchtigte Politik der verbrannten Erde des türkische
Staates. Jetzt wurden unter dem Namen Aufstandsbekämpfung kurdische
Dörfer zu Tausenden planmäßig zerstört, um
den See auszutrocknen, in dem die Guerilla der Fisch war. Dies führte
auch zur systematischen Tötung von Intellektuellen, Journalisten,
Gewerkschaftern, Menschenrechtlern und politischen Aktivisten in
den Straßen kurdischer Städte, Tötungen und Vertreibungen,
die sich schnell auf das Schicksal nahezu jeder kurdischen Familie
auszuwirken begannen. Dies war auch die Zeit unbewaffneter Massendemonstrationen,
der Serhildan, der kurdischen Intifada, mit Höhepunkten bei
Gelegenheiten wie der Beerdigung von Führern, die von Todesschwadronen
getötet worden waren, oder bei kurdischen Festen wie Newroz,
dem Neujahrsfest im Frühling, wo Polizei oder Militär
in die unbewaffnete Menge schoss und den Kurden manchen Blutsonntag
bescherte.
Nach Schätzungen kurdischer Quellen wurden mehr als 30.000
Kurden getötet, mehr als 3.000 kurdische Dörfer geräumt
und damit zwischen drei und vier Millionen kurdischer Zivilisten
zu Vertriebenen im eigenen Land. Dazu wurden zwischen 23.000 und
30.000 Kurden zwischen Juli 1987 und Mai 2001 inhaftiert. Die meisten
Menschenrechtsverletzungen wurden zwischen 1993 und 1998 begangen.
Während sich Tausende kurdischer Jugendlicher der PKK anschlossen,
insbesondere auch junge Frauen, die vom emanzipatorischen Ansatz
der Partei in der Geschlechterfrage angezogen wurden mit der Aussicht
auf ein Leben frei von der erstickenden Sklaverei der patriarchalen
Knechtschaft in der Familie zu Hause, war die türkische Mehrheitsbevölkerung
gefangen im Sumpf erbarmungslosen Medienterrors, der ihr bösartige
chauvinistische und primitive hedonistische Ideen in die Köpfe
hämmerte, und die Herrschaft über den inneren Kern des
Staatsapparates schließlich an ein Netz militanter Faschisten
fiel, organisiert wie die Mafia und korrupter pro-amerikanischer
Politiker, die die ramboartigen Spezialkräfte trainierten und
finanzierten als Söldnertruppen, die sogar die regulären
Streitkräfte, das traditionelle Rückgrat der autokratischen
Republik nach Belieben herumstießen. Zu dieser Zeit begann
das scheinbar streng säkulare Regime auch die sogenannte Hisbollah
(die nichts zu tun hat mit der libanesischen Organisation gleichen
Namens) aufzubauen und großzuziehen als fanatisches Gegengewicht
zur sozialistischen kurdischen Bewegung, eine Miniversion des "grünen
Gürtels."
Dieses politisch-militärische Konzept wurde später als
"Konzept 93" bekannt und seine Architekten und Ausführenden
sollten die Bezeichnung "innerer Staat" erhalten; ihre
Verbindungen zur geheimen NATO-Organisation Gladio würden aufgedeckt
werden und ihre herausragende Rolle im internationalen Drogenhandel,
Geldwäsche, die systematische Ausnutzung von Staatsverträgen,
Bestechung und mannigfache Variationen organisierten Verbrechens
würden in dem Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission
dokumentiert werden, die sich mit dem tödlichen Unfall eines
Mercedes-Benz in der kleinen Stadt Susurluk an der Ägäis
im Jahre 1996 beschäftigte. In dem Wagen befand sich ein bekannter
Mafioso und Organisator faschistischer Mordkommandos, der einen
Diplomatenpass bei sich hatte, obwohl er von Interpol gesucht wurde,
dazu ein hochrangiger Polizeibeamter und ein Abgeordneter, der Führer
des kurdischen Bucak-Stammes, eines präfeudalen Klans, aus
dem sich viele der 60.000 sogenannten Dorfschützer rekrutierten.
Diese Dorfwächter sind kurdische paramilitärische Einheiten
in staatlichem Sold, verwendet als Fußsoldaten bei Operationen
gegen die PKK und häufig in Vergewaltigung, Mord und andere
Arten von Terror gegen die kurdische Bevölkerung verwickelt.
Kurz gesagt, dieses unheilige Triumvirat bildete die inneren Machtstrukturen
der türkischen Oligarchie, wie selbst nationale türkische
und westliche Medien einräumen mussten. Trotz beträchtlicher
öffentlicher Proteste im Verlaufe der offiziellen Ermittlungen
wurde wenig getan, diese Strukturen zu zerlegen. Im Januar 2002
bestätigte das Berufungsgericht ein Urteil, das auf Ermittlungen
basierte, die nach dem Unfall durchgeführt worden waren, wonach
insgesamt vierzehn frühere Regierungsvertreter jeweils zwischen
vier und sechs Jahren Gefängnis erhielten für ihre Verbindung
zum organisierten Verbrechen.
Die Aufdeckung dieser Querverbindungen bedeutet nicht, dass die
türkische Öffentlichkeit jetzt offen über diese Strukturen
diskutieren und ihnen entgegentreten konnte. Der liberale Journalist
Celal Baslangic muss möglicherweise für bis zu sechs Jahre
in Haft, weil er in seinem Buch "Tempel der Angst" die
Ergebnisse seiner Nachforschungen zu verschiedenen Massakern und
Grausamkeiten, die von den Streitkräften verübt worden
waren, veröffentlichte, trotz der Tatsache, dass der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte die von Baslangic veröffentlichten
Fakten großenteils während zweier Verfahren vor dem Gericht
bestätigt hat. Menschenrechtsbeschwerden auf der Grundlage
anderer Ereignisse, die von ihm untersucht wurden, sind noch nicht
abgeschlossen.
Während der ganze Horror der Konterguerilla freigesetzt wurde
und kurz vor der Susurluk-Affäre hielt sich die PKK im Herbst
und Winter 1995 zum zweiten Mal an einen einseitigen Waffenstillstand.
Dieser Waffenstillstand wurde jedoch von weiten Teilen der türkischen
und internationalen Öffentlichkeit rundweg abgelehnt und natürlich
auch von den Meinungsmachern als Zeichen ihrer zunehmenden Schwäche
angesichts der Erfolges des Konzepts 93.
Der Führer der PKK, Abdullah Öcalan, beschrieb diese Periode
als gekennzeichnet durch "extreme Wiederholungen" von
Verhaltensmustern bei beiden Konfliktparteien, Muster, die die PKK,
wie er selbstkritisch bemerkt, nicht in der Lage war kreativ zu
überwinden, hauptsächlich weil "die Art, wie der
Krieg geführt wurde, beiden Seiten völlig entgleist war."
Am 6. Mai 1996 detonierte eine starke Bombe in einem Vorort von
Damaskus und entlaubte die Bäume im Umkreis einer halben Meile,
wie Augenzeugen berichteten. Der türkische Journalist Tuncay
Özkan zeigt in seinem Buch "Operation", wie dieses
misslungene Attentat auf Abdullah Öcalan vom türkischen
Geheimdienst MIT geplant und ausgeführt wurde mit der Zustimmung
des damaligen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz, heute Führer
des kleinsten Koalitionspartners in der derzeitigen Regierung und
ein Anwalt der europäischen Integration. 1997 ergab sich der
PKK-Kommandeur, der für die Tötung der 33 Soldaten außerhalb
des Kampfgebietes verantwortlich war, den Militärs und sagte
später vor dem Staatssicherheitsgericht aus, er habe der türkischen
Armee geholfen, indem er Angriffe auf türkische Soldaten außerhalb
des Kampfgebietes befahl, während sich die PKK an den Waffenstillstand
hielt.
Die Geständnisse des Ex-Kommandeurs wurden von fortschrittlichen
kurdischen Intellektuellen als Ausschnitt aus der sozialen Zerstörungskraft
einer Persönlichkeit betrachtet, die in der Enge und dem Spießertum
der Sippe feststecke, ein patriarchaler und feudaler Charakter,
dessen Verständnis der Befreiung von Unterdrückung in
der Nachahmung des Unterdrückers bestünde. Dieser geistige
Zustand ähnelt ein wenig dem, was Frantz Fanon oder Paolo Freire
über die gespaltene Persönlichkeit des Kolonisierten sagen.
Abdullah Öcalan hat solches Verhalten scharf als "Verhalten
von Kriegsherren" und "primitiven Nationalismus"
verurteilt. Die PKK müsse solche Tendenzen überwinden
wie der türkische Staat sein chauvinistisches oligarchisches
Gangstertum überwinden müsse.
Ähnliche Tendenzen dürften das Verhalten der Demokratischen
Partei Kurdistans (KDP) von Messut Barsani und der Patriotischen
Union Kurdistans (PUK) von Dschalal Talabani, den beiden wichtigsten
Fraktionen der nationalistischen kurdischen Bewegung von Südkurdistan,
bestimmen denen jeweils ein Teil der autonomen Regionalregierung
zugewiesen worden war, die von den Amerikanern nach dem Golfkrieg
von 1991 in der nordirakischen Schutzzone errichtet worden war.
Angesichts wiederholter Einfälle der türkischen Armee
und ihrer Spezialkräfte in den Nordirak während der neunziger
Jahre beschlossen beide Parteien, die sich in Streitereien über
die Zolleinnahmen aus dem beschränkten Handel zwischen Nordirak
und Türkei verwickelt hatten, die Türkei bei ihren Feldzügen
gegen die PKK zu unterstützen, anstatt sich zu vereinigen und
den kurdischen Interessen zu dienen. Beide Fraktionen unterhalten
starke Bindungen zu Washington und London, Ankara und - weniger
offen - zu Tel Aviv, weisen aber die PKK als fremde Kraft zurück,
trotz der Tatsache, dass sich die PKK der Unterstützung eines
großen Teils der Bevölkerung in Südkurdistan erfreut.
Die beiden Weltkriege haben im Mittleren Osten eine politische Situation
geschaffen, in der alle Staaten untereinander verfeindet sind und
diesen Zustand zudem en miniature auf die Kurden abbilden. Nach
zehn Jahren ist die Schutzzone, von den USA im von den Briten ins
Leben gerufenen Irak eher die Bühne zunehmenden kurdischen
Brudermords und kurdischer Abhängigkeit denn ein Ort der Einheit
und des Selbstvertrauens gewesen.
In den Jahren 1992, 1994 und 1997 gab es drei größere
Kriege zwischen KDP, PUK und PKK mit mehreren hundert Opfern auf
allen Seiten. Jeder dieser Kriege wurde durch großangelegte
Militäroperationen der Türkei in den Nordirak ausgelöst.
Nachdem sich die PKK mit den Parteien im Süden verständigt,
aber nicht vereinigt hatte, beschloss die PKK einen dritten einseitigen
Waffenstillstand in der Türkei einzuhalten, der am 1. September
1998 beginnen sollte. Abdullah Öcalan gab im kurdischen Fernsehsender
Med TV folgende Stellungnahme ab:
"...Wir haben uns entschlossen, diesen Schritt zu tun, weil
wir ernsthaft und von ganzem Herzen glauben, dass ein zivilisiertes
und der Gegenwart angemessenes Vorgehen von uns verlangt, dass wir
einer politischen Lösung dieses Problems eine Chance geben,
das für die schwere Krise, in der sich die Türkei befindet,
so entscheidend ist, eines Problems, das zwar konkret als "Kurdische
Frage" auftritt, tatsächlich aber grundsätzliche
und substantielle Fragen der Demokratie einschließt. Die Frage
der Menschenrechte und die kurdische nationale Frage sind ebenfalls
mit diesem Problem verknüpft. Ich glaube fest daran, dass wir
diese große Frage der Türkei, seiner Bevölkerung,
der Völker des Mittleren Ostens, des Weltfriedens lösen
können, wenn es uns gelingt, ein Zeichen unseres guten Willens
zu setzen und zu entwickeln, ohne den Provokationen bestimmter Kreise
nachzugeben, die sich sowohl unter uns als auch in Teilen des türkischen
Staates befinden, und aus dem Krieg materiellen Gewinn ziehen wollen."
DIE ENTFÜHRUNG
Die bisherige kurze Zusammenfassung der Ereignisse von 1993 bis
1998 macht deutlich, warum das Regime diesen Aufruf mit einer Massierung
von Truppen an der syrischen Grenze beantwortet, um zu erzwingen,
dass Öcalan von dort ausgewiesen wird, und seine Operationen
gegen die kurdische Guerilla innerhalb und außerhalb der eigenen
nationalen Grenzen unvermindert fortsetzt. Im Verlaufe dieser Operationen
wollte das Regime die kurdischen Zeichen guten Willens ausnutzen,
um sowohl militärisch als auch propagandistisch Land zu gewinnen
gegen einen Feind, der zwar nicht vernichtet werden konnte, wie
führende Strategen bestätigten, dem man aber, gerade weil
er existierte, militärisch entgegentreten musste. Außerdem
war es notwendig, den Konflikt zu verlängern, um einer unkontrollierbaren
Bande von Kriegsprofiteuren die Möglichkeit zu geben, ihre
wirtschaftliche und politische Plünderung des Landes ungestört
fortzusetzen. Wie wir oben schon angemerkt haben, war dies keine
Überraschung.
Einigermaßen überraschend allerdings war die amerikanische
und europäische Verwicklung in die fortgesetzte Vernichtungspolitik
gegen die Kurden, die langsam ans Licht kommen sollte, als die Ereignisse
um Abdullah Öcalans Bemühungen um eine friedliche Verständigung
ihren Lauf nahmen.
Nachdem er am 9. Oktober 1998 von Syrien ausgewiesen worden war,
beschloss Abdullah Öcalan sich auf den Weg nach Europa zu machen
und nicht in die Hochburgen der PKK in den kurdischen Bergen des
Nordirak oder Nordwestiran. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur
Reuters erläuterte er seine Motive folgendermaßen:
"Wenn eine politische Verständigung über die kurdische
Frage an Akzeptanz gewinnt, dann bin ich sicher, dass alle Gewalt
in der Türkei, gleich von wem sie ausgeht und natürlich
einschließlich des Guerillakrieges, weitgehend zum Stillstand
gebracht werden kann. [..] Wenn erst einmal ein politischer Prozess,
ein politischer Dialog initiiert ist, können wir unseren strategischen
Ansatz ändern. Wovon hängt das ab? Wenn Europa sein Gewicht
nutzt, die USA sich unterstützend verhalten und die Türkei
zu einer politischen Einigung bereit ist, dann werden wir sicher
vorziehen, eine solche Verständigung als strategische Perspektive
zu erwägen, denn so etwas wollten wir ja ohnehin. Deshalb ist
es nicht korrekt zu sagen, ich sei nach Europa gekommen, um widrigen
Bedingungen zu entkommen. Tatsächlich, wenn wir auch nur eine
Chance für eine solche Lösung zu fassen bekommen, dann
kann ein Prozess [rein] politischen Kampfes beginnen."
Ähnliche Ansichten äußerte Abdullah Öcalan
auch in einem Interview mit dem Magazin Middle East Review im Januar
1999:
"Es kann keinen Zweifel geben, dass eine Anerkennung der kurdischen
Frage durch die internationale Gemeinschaft mehr als alles andere
zu diplomatischer Anerkennung führen wird und dementsprechend
hat es die Etablierung eines Dialoges mit der Türkischen Republik
für mich Priorität in Verbindung mit internen Anstrengungen
in Richtung einer politischen Verständigung. Ich möchte
noch einmal wiederholen, was ich über eine Lösung innerhalb
der existierenden Grenzen der Türkei und die demokratische
Struktur des Staates gesagt habe. Ich möchte mich darauf konzentrieren,
eine Lösung für die kurdische Frage zu finden basierend
auf dem Konzept der pluralistischen Demokratie. Und ich werde verstärkt
versuchen die Unterstützung sowohl der Türkei als auch
internationaler demokratischer Mächte zu gewinnen."
Abdullah Öcalans erstes Ziel war Griechenland, von wo er sofort
nach Moskau weiter fliegen musste. Keines der Länder war bereit,
ihm tatsächlich politisches Asyl zu gewähren. Am 13. November
1998 traf Abdullah Öcalan in Italien ein, und wurde bis zum
17. Januar in einer römischen Vorstadt untergebracht. Die italienischen
Behörden lehnten ein Auslieferungsersuchen der Türkei
ab mit der Begründung, Herr Öcalan müsse bei seiner
Rückkehr in die Türkei mit der Todesstrafe rechnen. Gleichzeitig
entschieden die deutschen Behörden, einen Haftbefehl gegen
Abdullah Öcalan aufzuschieben, der 1990 mit Hilfe eines abenteuerlichen
Konstruktes ausgestellt worden war. Die Regierungschefs beider Länder
berieten über mögliche Orte einer internationalen Konferenz
über eine Lösung der kurdischen Frage mit europäischer
Beteiligung.
Öcalan andererseits verlieh seinen Glauben an die Grundprinzipien
und demokratischen Garantien der Europäischen Union Ausdruck,
so zum Beispiel in einer Erklärung für die Exilpublikation
Özgür Politika am 16. Januar 1999:
"Ich glaube, dass eine Vorstellung des Rechts, wie sie im Rechtssystem
der Europäischen Union Ausdruck findet, auch für die kurdische
Frage entwickelt werden sollte, und ich habe entsprechende Forderungen
geäußert. Ich möchte [unsere Forderung] unterstreichen,
eine Untersuchungskommission basierend auf den Prinzipien der EU
möge in Kurdistan recherchieren, und, wenn nötig, sollte
ein internationaler Gerichtshof eingerichtet werden."
Öcalan machte mehrfach deutlich, dass er bereit sei, selbst
vor ein solches internationales Gericht zu treten, mit der einzigen
Bedingung, dass auch die Türkei vor Gericht gestellt werde.
Aber seine Hoffnungen und Forderungen wurden nicht erfüllt.
Die türkische Regierung und der Medienapparat hatten eine ständig
sich steigernde Kampagne chauvinistischer Wut gegen Italien losgetreten,
weil es Öcalan Aufenthalt gewährte, dem "Babykiller
und Mörder von 30.000 Menschen." Die Kampagne gipfelte
in einem Boykott italienischer Waren und führte zu starken
antiitalienischen Gefühlen in der türkischen Bevölkerung.
Gleichzeitig und weniger engstirnig nutzten die USA leise diplomatische
Kanäle, um die Europäer davon zu überzeugen, keine
politische Initiative zur friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts
zu unterstützen. Deutschlands Schritt, den Haftbefehl auszusetzen,
gab grünes Licht für die letztendliche Entscheidung der
italienischen Regierung, Druck auf Abdullah Öcalan auszuüben,
damit er das Land mit unbekanntem Ziel verließe trotz seiner
noch offenen Asylbewerbung. Alle europäischen Länder verweigerten
ihm eine Einreiseerlaubnis. Über Moskau, Athen und Korfu wurde
der Kurdenführer schließlich nach Nairobi in Kenia geflogen,
zur dortigen griechischen Botschaft. Dabei wurde immer deutlicher,
dass es sich hier um eine überlegte Verschwörung handelte,
ihn in eine Position zu bringen, aus der man ihn, war nur erst der
Schutz durch europäisches Recht wirkungsvoll beseitigt, den
türkischen Behörden übergeben konnte.
In der laufenden Beschwerde vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof
haben die Anwälte von Abdullah Öcalan nachgewiesen, dass
die Verschwörung, die mit seiner Entführung endete, rechtswidriges
Verhalten seitens der Behörden oder zumindest inoffiziell handelnder
Beamten in Griechenland, Russland, Italien und Kenia zur Folge hatte.
Zudem gibt es deutliche Hinweise, dass Deutschland, Grossbritannien,
die Niederlande und Israel zumindest indirekt an der Operation beteiligt
waren.
Als Abdullah Öcalan schließlich am 15. Februar gezwungen
wurde, das Gebäude der griechischen Botschaft in Nairobi zu
verlassen, wartete das Privatflugzeug eines türkischen Geschäftsmannes
bereits seit zwei Tagen auf der Rollbahn des Flughafens von Nairobi.
(Bemerkenswerterweise wurde dieser Geschäftsmann wegen Offshore-Bankings
und Steuerhinterziehung im Sommer 2001 von den USA an die Türkei
ausgeliefert.)
In seiner Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte, beschreibt Öcalan die letzte Folge der Ereignisse
um seine Entführung.
"Schwarze in einem Geländewagen haben mich gewaltsam ergriffen,
Wäre ich in der Botschaft geblieben, hätte das auch darauf
hinauslaufen können, dass ich getötet werde. Sie fuhren
den Wagen genau bis vor die Tür des Flugzeugs. Später
kamen wir in einen nicht-öffentlichen Bereich des Flughafens.
Das Bewusstsein verließ mich. Wahrscheinlich setzten sie mich
unter Drogen. Ich kann bestätigen, dass ich zu diesem Zeitpunkt
nicht Herr meines Willens war. Ich fühlte mich betäubt.
Sobald ich die Maschine betrat, warf sich jemand auf mich. Es waren
Türken. Alle anderen, die um das Flugzeug herumstanden, waren
bewaffnet und ihrem Aussehen nach, glaube ich, waren es entweder
US-Amerikaner oder Israelis. Es waren keine Türken dort, bis
wir in die Maschine kamen. Türken befanden sich nur in der
Maschine selbst."
Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit zitterte
vor Erregung als er am 16. Februar 1999 eine Erklärung verlas,
in der er verkündete, Öcalan sei "gefangen worden
im Anschluss an unsere stillen, aber intensiven Bemühungen
über einen Zeitraum von zwölf Tagen in verschiedenen Ländern
und auf verschiedenen Kontinenten." Ecevits überheblicher
Erklärung wird nicht nur durch Öcalans eigenen Bericht
widersprochen, hinzu kommen noch andere Indizien. Es war im Herbst
2001, als Tony Blinken, der ehemalige Sonderberater von Bill Clinton,
in einem Interview mit CNN beschrieb, wie die USA der Türkei
geholfen hatten und zwar "von Anfang an", indem die Länder,
die Öcalan beherbergten, "aufgefordert" wurden, sicherzustellen,
dass er "der Gerechtigkeit zugeführt werde." Doch
ausgerechnet während des Verfahrens vor dem türkischen
Staatssicherheitsgericht im Sommer 1999, in dem Öcalan zum
Tode verurteilt wurde, platzten türkische Zeitungen mit der
Meldung heraus, die Festnahme Öcalans sei ein Geschenk der
CIA an die Türkei. Am 20. Januar 2002 bestätigte der ehemalige
Präsident Süleyman Demirel auf CNN, "jeder weiß,
dass die USA eine große Rolle dabei gespielt haben, Öcalan
in die Türkei zu bringen."
Als er über Blinkens Erklärung informiert wurde, erklärte
Öcalan seinen Anwälten: "Anscheinend haben die USA
und Griechenland mich der Türkei als Geschenk überreicht,
vielleicht als Anreiz für die Türkei, die Probleme mit
Zypern und der Ägäis zu lösen. Es gab nicht einmal
einen Handel oder ein Abkommen, ich war eher ein Geschenk, eingepackt
in Geschenkpapier. Es war wirklich schrecklich. Die USA sind grausam.
Sie übergeben mich an die Türkei und sagen, bringt ihn
um oder lasst ihn leben. Macht, was ihr wollt. Und das Ziel war
ja nicht nur ich als Individuum - Tötet die Kurden, wenn ihr
wollt, oder lasst sie in eine Position, die ihr für richtig
haltet. Mal sehen, ob sie überleben können... Ich frage
mich jetzt, was die Regierung Bush dazu sagt? Wir erwarten eine
Erklärung von den USA und wir erwarten eine von Griechenland."
DIE VERSCHWÖRUNG
Wenn Öcalan auf die Tatsache hinweist, dass seine Entführung
weniger die Leistung einer Gruppe türkischer Spitzenagenten
als das Ergebnis langfristiger Politik seitens weltweit agierender
Mächte war, so geschieht dies nicht nur um des moralischen
Wertes der Beweise willen, die ihm vorliegen. Er sagt in der gleichen
Erklärung: "Die Verschwörung hatte ihren Ursprung
in Britannien, und eine Gruppe kurdischer Kollaborateure war darin
verwickelt. Die Türkei selbst war unvorbereitet. Sie hatte
Druck ausgeübt, um mich in die Hände zu bekommen, seit
ich Syrien verlassen hatte, aber die türkische Regierung nahm
an der eigentlichen Planung nicht teil. Dies lässt sich zurückverfolgen
bis in das Jahr 1996, als Clinton und [der griechische Ministerpräsident]
Simitis übereinkamen, mich liquidieren zu lassen. Sie wollten
mich und weniger die PKK als ganzes beseitigen."
Hier kommt es zu einer wichtigen Akzentverschiebung auf der politischen
Ebene der Auseinandersetzung: Die Verschwörung, Öcalan
zu entführen oder zu töten war im Grunde nicht nur eine
Verschwörung gegen die Kurden, sondern auch gegen die Türkei.
Indem sie den Interessen jener Kräfte in der Türkei diente,
die materiell profitierten von den 15 Jahren totalen Kriegs der
türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung, indem
sie den Konflikt verlängerte, sollte die schimpfliche und ausbeuterische
Herrschaft der degenerierten proamerikanischen Oligarchie, die in
der Türkei gegen Ende des Kalten Krieges installiert worden
war, fortgesetzt und gefestigt werden bei wachsender Polarisierung
von türkischem und kurdischem Volk und einer Eskalation des
Krieges niedriger Intensität der Konterguerilla Strategen in
einen ausgewachsenen Krieg. Ethnisierung eines ursprünglich
politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konflikts als zeitgenössische
Form des divide et impera, eines integralen Bestandteils der pax
americana, waren das Grundprinzip, das Öcalan und die PKK -Führung
hinter dem Verhalten der USA und vieler europäischer Mächte
ausmachte, die gemeinsam den Kurden die anscheinend letzte Möglichkeit
verwehrten, einen Frieden in Gerechtigkeit zu erreichen und die
kurdische Frage in der Türkei zu lösen.
Die pogrom-ähnliche Atmosphäre in der Türkei vor
und viel mehr noch nach der illegalen Entführung des nationalen
Führers des kurdischen Volkes bot einen Vorgeschmack auf das,
was auf die Völker von Anatolien und Mesopotamien zukommen
sollte: Faschistische Mobs auf der Lynchjagd nach kurdischen Jugendlichen
einerseits, wahllose Brandanschläge auf öffentliche Busse
und ein Kaufhaus in Istanbul andererseits. Der Vorlauf zu den landesweiten
Wahlen in der Türkei war völlig verschmutzt von dieser
giftigen Atmosphäre und die faschistische MHP wurde am 18.
April 1999 zusammen mit Ecevit in die Regierungskoalition gewählt,
jenem Mann, der damit prahlte, er sei der Führer, dem es gelungen
sei, den Staatsfeind Nummer Eins zu fassen. Öcalan aber war
nur für einen Teil der türkischen Mehrheitsbevölkerung
ein Staatsfeind, wenn auch für den lautstärkeren Teil,
während Millionen Kurden aufgebracht und verzweifelt auf die
Straße gingen, nicht nur überall in der Türkei,
sondern auch in Irak, Iran, Syrien, Libanon, Pakistan, Russland,
Europa und selbst noch auf den Philippinen. Unterdessen wurde die
HADEP (Volks Demokratie Partei), die seit ihrer Gründung mit
pausenlosen Anschuldigungen der Behörden konfrontiert war,
ein legales Ventil für separatistische Aktivitäten zu
sein, bösartig im Wahlkampf behindert und schaffte nicht den
Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament. Internationale
Beobachter haben berichtet, dass Hunderte von Wahlurnen mit kurdischen
Stimmen von Sicherheitskräften verbrannt wurden und Wähler
in den Ostprovinzen davor gewarnt wurden, die HADEP zu wählen.
Dennoch erreichte die HADEP in einigen Gebieten mehr als sechzig
Prozent. Es gelang ihr bei den gleichzeitigen Kommunalwahlen 37
Städte und Gemeinden zu gewinnen.
Hinsichtlich der Frage, wer denn die türkische Nation zum Sieg
über die Kurden führen solle, ist es vergleichsweise erhellend
zu erfahren, dass Cavit Caglar, der vom türkischen Geheimdienst
als so vertrauenswürdig betrachtet wurde, dass man ihn in die
"Kenia Operation" einweihte, an herausragender Stelle
beteiligt war an der allgemeinen Praxis, Unmengen an Geld von privaten
und öffentlichen Banken abzuzapfen, und dass die gesamte Machtelite,
die sich so beharrlich weigerte, mit Terroristen auch nur zu reden,
inzwischen bloßgestellt wurden als Profiteure katastrophaler
Offshore-Bankgeschäfte und anderer ähnlicher Praktiken,
Staatsunternehmen in großem Maßstab zu melken: Die ganze
Sippe des damaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel;
die Sippe von Tansu Ciller, der Ministerpräsidentin, die das
Konzept 93 so nachdrücklich betrieb; fast die komplette Führung
der MHP, sie alle haben erwiesenermaßen an der Plünderung
der türkischen Wirtschaft teilgenommen und das in einer Weise,
die Herrn Mobutu als harmlosen alten Mann erscheinen lässt.
Sie alle wurden entlarvt, doch kaum einer wurde wirklich vor Gericht
gestellt und verurteilt. Einer der Obersten Gerichtshöfe in
der Türkei, der einige mysteriöse Aspekte des türkischen
Haushaltsdefizits untersuchte, hat 2001 festgestellt, dass fast
22 % des gesamten Regierungshaushalts in Form nicht veröffentlichter
Haushaltsausgaben außerhalb der parlamentarischen Kontrolle
abgezweigt wurde, also in den "schwarzen Sektor", der
Wirtschaft floss, der mit den Aktivitäten des "inneren
Staates" verknüpft ist; es wurde allerdings nichts getan,
um die Spuren des Geldes zurückzuverfolgen und es wiederzubeschaffen.
Dies ist beileibe nicht neu für die türkische Öffentlichkeit
und man darf annehmen, dass der Betrag auf dem Höhepunkt des
Krieges sogar noch höher war. Mehmet Agar, ehemals Innenminister
unter Tansu Ciller, hat öffentlich zugegeben, dass er große
Brocken dieses vermissten Geldes verwendet hat, um "1000 Operationen"
gegen die Kurden zu finanzieren. Dabei beschäftigte er gesuchte
Mafiosi und andere illegale Organisationen. Der letztliche Zusammenbruch
der türkischen Wirtschaft im Dezember 2000, die sich schon
seit den frühesten Tagen des Kriegs gegen die Kurden in der
Krise befand, ist nur der Widerhall der Art und Weise, wie die zivile
politische Oligarchie, die vom Militärregime mit der Führung
des Landes betraut worden war, die Regierungsgeschäfte wahr
nahm. Das Militärregime war im September 1980 mit aktiver Unterstützung
der USA und der Bundesrepublik installiert worden. Ökonomen
bestätigen, dass die Politik des IWF, was die Türkei angeht,
eher als Ursache der Krise betrachtet werden muss denn als Heilmittel.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass seitens der PKK eine konventionelle
Antwort auf die Gefangenschaft ihres Führers zu wenig gewesen
wäre, insbesondere im Hinblick auf die Notlage der kurdischen
und türkischen Massen. Bewaffneter Kampf auf der Basis der
klassischen Forderung nach nationaler Befreiung hätte unter
den gegebenen Bedingungen und gerade auch da das Leben des Führers
der Organisation auf dem Spiel stand vielleicht ausgereicht, die
Hoffnungen des Analytiker des Internationalen Instituts für
strategische Forschung in London zu erfüllen, dahingehend dass
"die Beseitigung des autokratischen Führers der Kurdischen
Arbeiterpartei (PKK) auch mögliche lähmende Spaltungen
innerhalb der Organisation" zwischen "hartgesottenen Marxisten"
und Anhängern einer "eher nationalen und pragmatischen
Position" aufdecken werde. Hier kam die Überlegung zum
Tragen, verschiedene Gruppierungen innerhalb der führerlosen
Bewegung würden sich gegenseitig auf Kosten der Gesamtintegrität
bekämpfen und dass "der Niedergang der PKK das Entstehen
einer neuen, gemäßigten und friedlichen kurdischen Bewegung
ermöglichen werde... Eine demokratische kurdische Organisation
könnte viel eher die Sympathien des Westens erhalten und die
Unterdrückung solch einer [neuen] Bewegung durch die Türkei,
könnte Ankara Probleme machen bei seinem wichtigsten Verbündeten,
den USA." Hieran sieht man leicht, dass die Unterdrückung
der gegenwärtigen kurdischen Bewegung weit davon entfernt ist,
die USA zu beunruhigen, selbst bei der Zerstörung von 4.000
Dörfern, Tausender extralegaler Hinrichtungen politischer Oppositioneller
durch Todesschwadronen und systematischer Folter im ganzen Land.
Wenn die derzeitige eigenständige kurdische Bewegung einen
gemäßigten Kampf für eine demokratische und friedliche
Lösung führt, muss sie zerstört und eine neue geschaffen
werden nach dem Muster der Post-Talibanregierung in Afghanistan
oder dem Irakischen Nationalkongress - also eine von Anfang an den
USA loyale Bewegung. Nach ihrer Erfahrung mit der illegalen Entführung
von Abdullah Öcalan zu einer Zeit, als er entschieden für
eine gewaltfreie Lösung eintrat, glauben viele Kurden, der
Westen erwarte von ihnen lediglich Loyalität, Unterwürfigkeit
und Abhängigkeit, nicht aber friedliche und demokratische Methoden.
Wut und Enttäuschung waren weit verbreitet. Das IISS kommentiert
die Entscheidung der PKK, sich eine gewaltfreie Strategie zu eigen
zu machen, während ihr Führer in Rom war: "Wenn kurdische
Massenparteien entstehen, könnten sie paradoxerweise gefährlicher
sein für den türkischen Staat und seine Beziehungen zu
Europa" - also muss man die Kurden vom politischen Kampf fernhalten,
indem man sie hineinzieht in einen bewaffneten Kampf. Ihre Führung
würde sich in inneren Kämpfen verbrauchen und schließlich
durch eine zahme, abhängige Führung ersetzt werden.
FRIEDENSBEMÜHUNGEN
In einer Atmosphäre, in der selbst seine einheimischen Rechtsanwälte
von Todesschwadronen eingeschüchtert und von Polizeibeamten
und nationalistischen Mobs auf dem Weg in den Gerichtsaal verprügelt
wurden; wo nächtliche Patrouillen die Türen kurdischer
Häuser in einigen Städten der Westtürkei mit Farbe
markierten, nutzte Abdullah Öcalan das bisschen an Spielraum,
das er in seinem Glaskäfig auf Imrali während der Anhörungen
im Juni 1999 hatte, um seine Organisation zur Einhaltung der Waffenruhe
aufzurufen, alle unerlaubten Handlungen gegen Zivilisten einzustellen
und sich auf die Umwandlung in eine rein politische Organisation
vorzubereiten.
Die Tatsache, dass er die gleiche Strategie wie vor seiner Entführung
fortführte und die Tendenzen in Richtung auf einen friedlichen
politischen Kampf, die von 1993 bis 1998 gereift waren, erneut aufgriff,
war für viele überraschend und wurde meist als radikale
Kehrtwende in der Politik der Organisation kommentiert und als Versuch
Öcalans, seine eigene Haut zu retten. Doch die PKK unterstützte
Öcalans Aufruf und zog sogar ihre Kämpfer auf Territorien
außerhalb der türkischen Grenzen zurück.
Das Dokument, das Abdullah Öcalan zu seiner Verteidigung beim
Staatssicherheitsgericht während der Verhandlung auf Imrali
vorlegte, weist darauf hin, dass eine wirkliche Analyse der wirklichen
Umstände nur zu einem demokratischen System führen könne:
"Die Option einer demokratischen Lösung ist, nicht nur
im Allgemeinen, sondern auch für die kurdische Frage, die einzige
mögliche Option. Sezession ist weder möglich noch notwendig.
Zweifellos liegt es im Interesse der Kurden, eine demokratische
Union mit der Türkei aufzubauen. Wenn eine demokratische Lösung
in vollem Umfang verwirklicht wird, dann wird sie wahrscheinlich
ein erfolgreicheres und realistischeres Model darstellen als eine
Autonomie oder selbst eine Föderation. In diese Richtung führt
uns der praktische Lauf der Dinge ohnehin..."
"... Gesellschaften , in denen die Demokratie Wurzeln schlagen
kann, sind gewöhnlich solche, deren schwierigste Probleme in
einem revolutionären Ausbruch an die Oberfläche gekommen
sind, die dann versuchen, die verbliebenen Widersprüche und
die darin zum Ausdruck kommenden Interessen mit gewaltfreien Mitteln
zu lösen unter Beteiligung der Einzelnen und sozialer Gruppen,
d.h. mit Hilfe von Parteien und öffentlichen Institutionen.
Hat eine Gesellschaft erst einmal diesen Grad an Reife erreicht,
besteht das ganze Problem darin, die Prinzipien und Einrichtungen
der Demokratie angemessen zu definieren und sie zu den vorhandenen
Problemen in Verbindung zu setzen...."
"... Als zum Zusammenbruch der faschistischen Regime und der
Gesamtentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Auflösung
des Realsozialismus in den Neunzigern kam, nahm das demokratische
System Einfluss auf die Türkei, wie es auch die übrige
Welt beeinflusste. Das Hineinwachsen der kurdischen Bewegung in
eine echte Volksbewegung war sicher ebenfalls sehr wichtig. Die
Massendemonstrationen in den 90er Jahren liefen im Grunde auf eine
ausgewachsene demokratische Revolution hinaus... Wenn die Linke
in der Türkei diesen Prozess gründlich verstanden und
sich ihm mit ihrer eigenen Partei angeschlossen hätte, und,
noch einmal, wenn der Guerillakrieg mit den Waffenstillstands-Ouvertüren
von 1993 sein Ende gefunden hätte, und in demokratische Politik
umgewandelt worden wäre, hätte die Türkei sicher
an diesem Punkt ihrer Geschichte einen erfolgreichen Sprung in Richtung
auf eine demokratische Republik tun können. Leider hat aber
die Ciller-Karayalcin-Regierung der Spezialkriegsführung von
93-96 [Ciller war zu dieser Zeit Ministerpräsidentin und Karayalcin
Oberkommandierender der Streitkräfte] diese positive Entwicklung
aus Spiel gesetzt, indem sie den Staat in eine Mafiastruktur zwang,
so dass es zu schwerwiegenden Änderungen, schmutzigem Krieg,
Schuldenwirtschaft und extrem degenerierter sozialer Korruption
kam. Auf diese Weise wurde das Fundament für das Verhalten
der Armee seit 95 bis zum heutigen Tage gelegt... Die demokratische
Qualität der Republik wird in dem Maße gesichert sein,
wie mit der PKK die Position der kurdischen Gesellschaft in der
Demokratie unabwendbar legitimiert wird..."
"...Wir wenden uns nicht gegen die Republik als solche, sondern
gegen all ihre oligarchischen und antidemokratischen Aspekte in
der Türkei und den feudalen Glauben, seine Wertmaßstäbe
und Strukturen im Herzen der Gesellschaft, in die wir geboren wurden.
In der Folge ist das Ziel also eine demokratische Republik: Freie
Bürger und eine freie Gesellschaft verwirklicht in ihrer Verfassung.
Die Republik kann durch unsere Aktivitäten nur an Stärke
gewinnen. Solchermaßen haben wir unsere Pflicht zur Modernität
interpretiert: Sich nicht auf diese Weise zu engagieren, wäre
geradezu respektlos gewesen gegenüber der Republik..."
Die PKK hat sich diese Auffassung offiziell auf dem 7. Außerordentlichen
Parteikongress im Herbst 1999 zu eigen gemacht. Der demokratische
Kampf der Massen um Grundrechte und Freiheiten sollte die Basis
für einen Wandel in der Türkei schaffen, der es der türkischen
Bevölkerung erlauben würde, gegen jene Oligarchie zu kämpfen,
die auch sie unterdrückt, ohne dabei vom chauvinistischem Geschrei
über die Unvermeidbarkeit von Terrorismusbekämpfung unter
der Leitung einer Elite, die von Militarismus und organisiertem
Finanzverbrechen durchsetzt ist, aufgesaugt zu werden.
Besonders die kurdische Bevölkerung in den vom Krieg betroffenen
Gebieten fand schnell heraus, dass ihre Interessen und Wünsche
sich in einem solchen politischen Prozess widerspiegelten. In Diyarbakir,
dem politischen Zentrum der Kurdengebiete, wo die Besuche der Regierungsoffiziellen
gewöhnlich von allgemeinen Hartals, Streiks, bei denen man
das Haus nicht verlässt, begleitet werden, begrüßte
jetzt eine Ansammlung kurdischer Frauen in ihren traditionellen
Kleidern Ecevit und sein Gefolge mit Sprüchen und Geheul in
ihrer Muttersprache und ließen Hunderte weißer Tauben
in den Himmel steigen. Vielleicht hat all dies die türkischen
Führer mehr geärgert und erschreckt als das frühere
völlige Fehlen von einheimischen Zuschauern (die zu sehen man
ja ohnehin noch nie gekommen war). Die 37 kurdischen Stadtverwaltungen
einschließlich der Stadt Diyarbakir, die seit den Kommunalwahlen
im April 1999 von der HADEP regiert wurden, bemühten sich sehr,
die Forderungen der örtlichen Bevölkerung nach besseren
kommunalen Diensten, kulturellen Einrichtungen und politischer Repräsentation
zu erfüllen - vielleicht das erste Mal, dass sich die Kurden
mit ihrer lokalen Regierung identifizieren konnten ( deren Möglichkeiten
innerhalb des starken türkischen Zentralismus streng begrenzt
sind). Kolumnisten und Kommentatoren begannen das "Kurdenproblem"
zu diskutieren, eine Formulierung, die bisher noch nie benutzt wurde,
da es lediglich ein "Terrorproblem" gab. Hochrangige Juristen
nahmen das Schlagwort von einer "demokratischen Republik"
bei ihren Reden zur Amtseinführung auf und ein neuer Staatspräsident,
Necdet Sezer, wurde ins Amt gewählt, ein ehemaliger Richter,
der nicht müde wurde zu betonen, wie wichtig der Rechtsstaat
sei. Menschenrechtsverletzungen gingen deutlich zurück. Die
PKK sandte zwei Gruppen freiwilliger Vertreter in die Türkei,
eine aus den Reihen der Guerilla in den Bergen, eine andere aus
dem europäischen Exil. Sie sollten die Botschaft überbringen,
dass die Partei bereit sei am politischen Leben teilzunehmen, wenn
eine bedingungslose Amnestie erklärt und die Todesstrafe abgeschafft
würde. Die erste Gruppe hatte zumindest lange und aufrichtige
Gespräche mit hochrangigen Generälen. Überall wurde
über Änderungen der Verfassung gesprochen und die Erfüllung
der Kopenhagener Kriterien als Basis für den Beitritt zur Europäischen
Union.
DIE KRISE
Weniger als ein Jahr später gelang es Kräften in der Türkei
und den USA, die feudalen Stammesführer der PUK (Patriotische
Union von Kurdistan) unter der Führung von Dschalal Talibani
durch finanzielle Zuwendungen dazu zu bringen, die Stellungen der
PKK im Nordirak anzugreifen mit der Absicht, sie wieder in den bewaffneten
Kampf hineinzuziehen. Auch die ruhige Situation zu Hause hatte die
türkische Elite nicht dazu veranlasst, den Kurden Grundrechte
einzuräumen. Allerdings waren Bruchlinien aufgetreten innerhalb
jener Teile der Elite, die sich die Rückkehr zum unerbittlichen
Staatsterror und eine Fortsetzung der autistischen aggressiven Politik
der Türkei wünschten. Diese basierte auf dem schwarzen
Sektor der Ökonomie, auf Korruption und dem Umlenken staatlicher
Gelder. Es gab diejenigen, die vom status quo erheblich profitiert
hatten und diejenigen, die sanfte demokratische Reformen wollten,
gute Regierung, westliche Liberalität und den Beitritt zur
Europäischen Union. Die zweite Gruppe ist nicht so lautstark
wie die erste und schlechter organisiert. Und auch die arbeitende
Bevölkerung der Türkei ist nicht hinreichend organisiert
und zusammengeschlossen, um sie wirksam zu unterstützen; sie
ist nicht einmal in der Lage, ihre eigenen unabhängigen Interessen
zu vertreten. Die Spaltung hat sich deshalb nicht in einer demokratischen
Öffnung niedergeschlagen und keine greifbaren Fortschritte
im Hinblick auf den weithin ersehnten rechtlichen, politischen oder
sozialen Wandel erkennen lassen.
Der IWF und die Weltbank waren bereit, ihren Griff um die daniederliegende
türkische Wirtschaft zu verstärken und die Einführung
internationaler Schiedsgerichte durchzusetzen. Zudem wollten sie
eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf etwas mehr als
die durchschnittliche Lebenserwartung. In den Gefängnissen
begannen Mitglieder linksradikaler türkischer Organisationen
einen Hungerstreik gegen die Einführung von Hochsicherheitszellen,
die die herkömmlichen Schlafsäle ablösen sollten,
nach dem Muster der Gefängnissysteme in Amerika oder Europa.
Der Hungerstreik wurde zum unerbittlichen Todesfasten, ohne dass
es gelang größere Teile der türkischen Bevölkerung
zur Unterstützung für die Forderungen der Inhaftierten
zu gewinnen.
Sie wiesen die Forderungen der Kurden nach einer Generalamnestie
als Ausdruck des Wunsches zurück, sich in ein System einzugliedern,
das gestürzt werden musste und beschränkten sich deshalb
auf den Kampf gegen die Isolationszellen. Die kurdischen Gefangenen
andererseits kritisierten die Unbeweglichkeit des linken türkischen
Randes in der Frage eines ausgehandelten Kompromisses und ihren
Mangel an Interesse für die sozialen Fragen außerhalb
ihrer eigenen unmittelbaren Lage. Diese fehlende Einigkeit sollte
hohen Tribut fordern. Als Gespräche zwischen Gefangenen und
Behörden schließlich trotz der Vermittlung bekannter
Personen scheiterten, als eine maoistische Organisation schließlich
die Verantwortung für den Tod zweier Schutzmänner in Istanbul
übernahm, strömten mehrere tausend bewaffneter Bereitschaftspolizisten
in die Straßen, um einen Protestzug gegen Menschenrechte und
eine geplante Amnestie aufzuhalten. Sie versammelten sich im Hof
des Polizeipräsidiums und bedrohten einige gemäßigtere
Vorgesetzte und beweisen auf diese Weise, dass die faschistische
Bewegung die Masse der Stadtpolizei hervorragend infiltriert und
organisiert hatte.
In den Morgenstunden des 19. Dezember 2000 griffen Sicherheitskräfte
verschiedene der Gefängnisse an, in denen die Hungerstreikenden
eingesperrt waren, und töteten insgesamt 32 Insassen durch
Schüsse, Granaten und indem sie Schlafsäle, in denen sich
die erschöpften Hungerstreikenden befanden, in Brand setzten.
Auf CNN verplapperte sich ein türkischer Journalist, der zuvor
als intimer Kenner der Szene vorgestellt worden war und erzählte,
der Angriff auf die Gefängnisse sei lange im Voraus geplant
und nur verschoben worden, als einige bekannte Persönlichleiten
ihre Vermittlung angeboten hätten.
Als schließlich das Amnestiegesetz verabschiedet wurde, stellte
es sich als eine Art Massenentlassung auf Bewährung heraus.
Die Haftzeiten für Kriminelle wurden drastisch reduziert, während
politische Gefangene vollständig ausgenommen waren. Die Forschungsstiftung
für Gesellschaft und Recht (TOHAV) hat es übernommen,
die Beschwerden von 1274 politischer Gefangener, die von diesem
Gesetz ausgenommen waren, vor den Europäischen Gerichtshof
zu bringen, mit der Begründung, es sei diskriminierend.
Im Januar 2002 ging der Hungerstreik immer noch weiter und die Gesamtzahl
der Todesopfer liegt nun bei 85. Weitere 150 sind dem Tode nahe.
Die ohnehin geringe öffentliche Unterstützung für
die Hungerstreikenden wurde erfolgreich zum Schweigen gebracht.
Während die hungerstreikenden Gefangenen getötet wurden
und die PKK sich einer Offensive Talibanis im Nordirak im Dezember
2000 gegenübersah, geriet die Türkei in eine ernste wirtschaftliche
Krise, ausgelöst, als über Nacht der Kurs der türkischen
Lira freigegeben wurde und diese gegenüber allen anderen Währungen
dramatisch verlor. In der Folge kam es zu Steigerungen der Verbraucherpreise
um mehrere hundert Prozent in verschiedenen Branchen. Gleichzeitig
kam es zu Massenentlassungen. Vor der Abwertung entsprach ein US
Dollar etwa 650.000 Lira und kletterte danach auf bis zu 1.5 Mio
Lira. Während die Regierung vorher verkündet hatte, sie
wolle die Inflationsrate auf 35 % im Jahre 2001 drücken, betrug
sie nun für dieses Jahr 88.5 %. Nach offiziellen Zahlen wurden
zwischen Januar und September 2001 eine Million Menschen entlassen.
Was nun könnte den IWF, abgesehen von dem was wir von seiner
Gesamtstrategie wissen, dazu gebracht haben, seine eigene Währungsklammer
zu lösen? Vielleicht der massive Rückzug ausländischer
Investoren (dieser sank um 45 %, gleichzeitig sank der Börsenindex
von 15,000 auf 7,000)? Warum aber kam es zu diesem plötzlichen
Rückzug ausländischer Investoren? Die Hauptursache hierfür
lag, darin stimmen die Analytiker überein, im Zusammenbruch
verschiedener privater und öffentlicher Banken, ruiniert durch
die bedenkenlosen Praktiken jener politischen Figuren und ihrer
Freunde, die wir bereits erwähnt haben. Nach Schätzungen
sollen mindestens 17 Milliarden Dollar auf diese Weise von staatlichen
Banken und 18 Milliarden Dollar von Privatbanken in private Taschen
geflossen sein. Weniger als 15% der Gesamtsumme konnte bis jetzt
zurückgeholt werden. Als nächstes muss man dann fragen:
Wie konnten diese Cliquen glauben, sie könnten kaltblütig
Milliarden stehlen und davonkommen? Die indiskutable politische
Dominanz, derer sie sich erfreuten, während der Krieg gegen
die Kurden in vollem Gange, ging parallel mit einem wirtschaftlichen
Prozess, der vor dem Hintergrund der typischen Allianz von politischer
Elite und Finanzkapital einen großen Teil der Grundlagen der
gegenwärtigen Krise legte. Der Finanzsektor wurde reich mit
den Superprofiten aus den enormen Staatsanleihen, die die türkische
Regierung ausgeben musste, um den Krieg von den achtziger Jahren
bis in die späten neunziger zu finanzieren. ( Wie dies genau
geschehen konnte, lässt sich im Detail bei dem Wirtschaftswissenschaftler
Fikret Baskaya nachlesen in "Turkish Economy in the Prongs
of War and Rent"; eine Diskussion dieser Arbeit hier würde
jedoch den Rahmen dieses Artikels verlassen). Heute sind etwa 70%
aller Bankgeschäfte, einschließlich derer öffentlicher
Banken, in irgendeiner Form mit Staatsanleihen verknüpft; lediglich
30 % entstammen dem Realsektor der Wirtschaft. Selbst 60 % der Gewinne
der größten türkischen Konzerne sind Zinsen aus
Staatsanleihen. Die Inlandsschulden haben inzwischen eine Höhe
von 110 Milliarden Dollar erreicht, die Auslandsschulden sind etwa
genauso groß. Bis November 2001 gab die Regierung 54.4 % ihres
gesamten Haushalts, d.h. 80 % der Steuereinnahmen, für die
Tilgung inländischer und ausländischer Kredite aus, während
nur 4.8 % in Investitionen ging. In Anbetracht dieser Zahlen kommt
man leicht zu dem Schluss, dass es offenbar gemeinsame Interessen
zwischen in- und ausländischen Kreditgebern der türkischen
Regierung gibt. Hinzu kommt, dass sowohl die externen Faktoren,
die die Dynamik des Weges in die wirtschaftliche Krise bestimmt
haben, wie der Druck des IWF auf die Türkei, als auch interne
Faktoren wie die unvermeidliche Korruption der gesamten Wirtschaft,
bis zu dem Zeitpunkt zurückverfolgt werden können, an
dem die kurdische Frage eskaliert ist. Belege hierfür konnten
wir in den vorangegangen Abschnitten liefern.
DIE EINGABEN AN DEN EUROPÄISCHEN GERICHTSHOF
Unter diesen Umständen ist es auch im direkten Interesse der
Türkei, ein wirklich demokratisches System aufzubauen, um die
kurdische Frage zu lösen. Dies würde gerade auch für
die arbeitende Bevölkerung von Nutzen sein. Bei der Lösung,
die Öcalan vorschlägt, geht es nicht um passende oder
unpassende Zugeständnisse der anderen Seite, sondern um das
Handeln für das gemeinsame Wohl: "Einheit in Freiheit".
Während er in seiner Verteidigung auf Imrali 1999 diese Punkte
auf einer pragmatisch-politischen Ebene ansprach, blieben die wissenschaftliche
und ideologische Dimension seines Ansatzes, seine historischen und
soziologischen Grundlagen unklar. Öcalan selbst sagte, seine
Verteidigung während des Verfahrens auf Imrali sei wenig mehr
als ein Aufruf zum Frieden gewesen, unter Umständen, die eine
Deeskalation als dringend notwendig erscheinen ließen. Er
wollte aber seine Aktivitäten, Überzeugungen und Ziele
in seinen Eingaben an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg (ECHR) vollständig darlegen.
Seine juristischen Vertreter hatten am Tag seiner Festnahme im Februar
1999 eine Individualklage bei diesem Gericht eingelegt, um die Menschenrechtsverletzungen
zu beleuchten, die die Türkei begangen hatte, als sie Öcalan
entführte und ihm ein Verfahren machte, das mit einem fairen
Verfahren nichts zu tun hatte, um ihn anschließend zum Tode
zu verurteilen. Der Gerichtshof hat Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen
gegen Abdullah Öcalan nach zwölf verschiedenen Artikeln
der Europäischen Menschenrechtskonvention im Dezember 2000
für zulässig erklärt und ist derzeit noch immer dabei
die Akte zu beraten. Während der Anhörung auf Imrali hatte
Öcalan festgestellt, es sei sein "größtes demokratisches
Ideal, mein Verfahren zur Grundlage für einen ehrenhaften Frieden
zu machen". Die Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof
war für ihn vor allen Dingen ein Mittel, solch einen Prozess
der Versöhnung zu diskutieren und zu fördern, nämlich
die Suche nach einer Lösung der kurdischen Frage auf internationaler
Ebene. Alles, was über den dringenden Aufruf zum Frieden hinausging,
sollte während der Verhandlungen vor dem Europäischen
Gerichtshof folgen.
Das Dokument, das Abdullah Öcalan für seine Beschwerde
beim Europäischen Gerichtshof entwarf, ist ein zweibändiges
Werk, in dem die Umstände seines Falles und die Situation der
Kurden vor dem Hintergrund ausführlicher historischer, philosophischer,
politischer und juristischer Argumentation diskutiert wird. "Von
der sumerischen Theokratie zu einer Republik des Volkes. Eine Verteidigung
des freien menschlichen Wesens" liefert eine gründliche
Analyse der sozialen Struktur des Mittleren Ostens als Ergebnis
mehrerer Jahrtausende lang aufeinander aufbauender, sich ergänzender
und sich widersprechender Schichten von Zivilisation. Dies beginnt
mit dem ersten der Forschung bekannten staatlichen Gebilde in Sumer
im vierten Jahrtausend vor Christus und endet vorläufig bei
der amerikanischen Vorherrschaft der zweiten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts n.Chr. Sein Gedanke der Emanzipation ist verknüpft
mit dem Aufruf zu einer tiefgreifenden Demokratisierung und einer
Renaissance des Mittleren Ostens. Diese könnte eine Art Gegenmittel
zum "Zusammenstoß der Kulturen" sein, wie er von
einigen US-Kulturwissenschaftlern behauptet wird, und zu einer Synthese
der Kulturen führen, in der die Völker des Mittleren Ostens
sich als freie und gleiche Mitglieder einer Weltgemeinschaft einrichten,
zu deren Anfängen und Aufstieg sie in der Vergangenheit einige
bedeutende zivilisatorische Errungenschaften beigetragen haben.
Der Widerspruch zwischen vergangener Größe und gegenwärtiger
Ohnmacht ist in den Köpfen der Menschen des Mittleren Ostens
noch immer lebendig. Öcalan äußert sich daher eindeutig
dahingehend, dass der Pfad zur Befreiung von fremder Herrschaft
notwendig über die Auflösung atavistischer und antidemokratischer
Strukturen in Staat, Gesellschaft und Mentalität der mittelöstlichen
Völker gehen muss. Sein Ziel ist eine demokratische Föderation
des Mittleren Ostens. Er entwickelt konkrete Vorschläge für
eine Lösung der kurdischen Frage in jedem der Länder,
in denen Kurden leben - Türkei, Iran, Irak und Syrien - im
Rahmen einer Demokratisierung der gesamten Region.
Diese Theorie verbindet den Kampf gegen religiöse Rückständigkeit
und lokale Nationalismen als auch die Zurückweisung positivistischer
eurozentristischer Konzepte der Modernisierung und westlicher politischer
Dominanz. Der Titel des Buches spiegelt die Aktualität der
historischen Analyse für den gegenwärtigen Kampf und die
Kontinuität historischer Ansammlung von Erfahrung wider. Dadurch
bietet seine Theorie auch eine Alternative zu klassischen Theorien
historischen Fortschritts.
Das Hauptinstrument des Kampfes sei, so nimmt er an, zivilgesellschaftliche
Organisation auf Graswurzelebene, die dritte Sphäre, nicht
Staat und nicht traditionelle Gesellschaft, ein friedlicher Kampf
der Massen, in dem die Führung an die Frauen und die Jugend
fällt - eine neue Ära demokratischer Serhildan, die jedoch
über nationalistische Forderungen hinausweisen und gleichzeitig
den demokratischen und fortschrittlichen Geist bewahren, der in
der bejahenden Äußerung der kurdischen Identität
liegt. Die Bemerkungen Abdullah Öcalans in seiner Verteidigungsschrift
über das Gebiet um seine Heimatstadt Urfa einschließlich
der archäologischen Stätte Haran wurden für ein zweites,
derzeit anhängiges Verfahren in der Türkei niedergeschrieben
und können als programmatisch betrachtet werden, für das,
was er für die gesamte kurdische Region vorschlägt. Ohne
die kurdische Gesellschaft zu idealisieren, macht er deutlich, wie
stark hier die feudalen Traditionen noch immer sind.
"Mehr noch, hinsichtlich der geistigen Einstellung gibt es
mehr als nur ein paar Reste des sumerischen Systems. In den ländlichen
Gebieten herrscht eine weitgehend neolithische Mentalität vor.
Kapitalistische Wertsysteme funktionieren im wesentlichen nicht.
Sie funktionieren nur in einem technischen Sinn. Urfa und seine
Umgebung sind mehr oder weniger ein Land in einem Land. Pluralismus
sitzt noch immer fest in den ethnischen und kulturellen Strukturen.
Man kann es ansehen als eine Miniatur des mittelöstlichen Mosaiks
von Gesellschaften...
Unsere erst Aufgabe muss die geistige Revolution sein. Ihre Bedeutung
wird klar und deutlich, sobald man einen Blick auf die gewohnheitsrechtlichen
Tötungen von Frauen wirft. Wenn ein Verhalten, das man als
natürliches Recht einer Frau ansehen darf, ihre Familie veranlasst,
sie zu töten, dann gibt es dort eine außerordentlich
gefährliche Situation... Konservatives Verhalten dieser Art
bezieht seine Stärke aus der Wirklichkeit der herrschenden,
ausbeutenden Klasse. Diese existiert seit Jahrtausenden und neuerdings
entwickelte kapitalistische Beziehungen würden dieses Verhalten
nur festigen. Sie würden es nicht auflösen. Doch auch
hier wird historische Erfahrung zu einem Quell der Stärke..."
"Jede Intervention in der Region auf einer ideologischen Ebene
muss nach demokratischen Kriterien geschehen... Nichts könnte
für Urfa wertvoller sein als Demokratisierung. Es braucht ein
Demokratisierungsprojekt genauso sehr wie das GAP (wirtschaftliches
Entwicklungsprogramm für Südostanatolien; Bau vieler großer
Staudämme an Euphrat und Tigris zur Bewässerung und Stromerzeugung)...
Am allermeisten ist allerdings ein umfassendes Projekt der Zivilgesellschaft
von Nöten..."
Öcalan sagt in Anspielung auf die populäre mittelöstliche
Legende aus dem jüdischen Buch der Jubiläen und dem Koran,
wonach Abraham Haran verlassen und nach Kanaan gehen musste, weil
er Götzenbilder in einem Tempel zerstört hatte und deshalb
in eine direkte Auseinandersetzung mit dem Tyrannen Nimrod geriet:
"Soweit die Mentalität betroffen ist, brauchen wir so
etwas wie eine verjüngte Abrahamitische Offensive. Die heutigen
Götzenbilder sind nur zahlreicher und standfester. Sie haben
Köpfe und Herzen paralysiert. Deshalb müssen wir sie mit
der Axt der Moral und intellektuellen Kraft im Geiste Abrahams treffen.
Weil wir zu wirklichem Respekt für die Religion und heilige
Werte verpflichtet sind, drängt es uns auf dem Wege einer solchen
Offensive zurückzuschlagen. Eine Revolution, die die gegenwärtigen
Götzenbilder zerschlägt, wird in eine wahre Renaissance
münden..."
Für Öcalan war die Erfindung der monotheistischen Religion,
wie sie Abraham zugeschrieben wird, eine emanzipatorische Reaktion
der semitischen Stämme, die die assyrische und babylonische
Götzenanbeterei als Ideologie der herrschenden Mächte
zurückwiesen, in denen sie nur die Unterworfenen sein konnten.
Doch sein Vergleich dieser Ideologie mit der hegemonialen Ideologie
des gegenwärtigen Imperialismus ist nicht nur metaphorisch,
sondern erklärend. Er findet die Grundstrukturen des Letzteren
in embryonaler Form beim Prototyp der Ideologie der damaligen herrschenden
Klasse wieder, der sumerischen Mythologie.
Phänomene wie Massenwanderung von der Peripherie ins Zentrum
oder Befreiungskämpfe der Peripherie lassen sich nicht nur
im Jahre 2000 n.Chr., sondern auch im Jahre 2000 v.Chr. beobachten.
Die Herrschaft des Staates und des Zentrums beruht jedoch niemals
nur auf physischer Gewalt, sondern immer auch auf ideologischer
Vorherrschaft über seine eigene Bevölkerung und die der
Peripherie. Diese Ideologie erscheint in der Geschichte zumeist
in Form der Religion.
Für Öcalan ist eine Theorie, die "die ideologische
Macht an der Wurzel des Staates als einfaches Abbild betrachtet",
zwangsläufig begrenzt und sogar gefährlich. "Das
Kapital kann die soziale Realität als Ganzes nicht erklären,
sondern führt mutatis mutandis direkt in eine andere Form desselben
Idealismus, den es so heftig kritisiert, vergleichbar mit der Selbstauslieferung
des "Realsozialismus" in die Arme des Kapitals. Aus den
dargestellten Gründen scheint es unvermeidlich, dass fehlerhaftes
marxistisches Denken uns genau an diesen Punkt führt."
Während Öcalan untersucht, wie sumerische Priester den
Tempel als "Gebärmutter des Staates" aufbauten und
unmittelbar im Anschluss an die erste Klassengesellschaft, die der
Geschichtsschreibung bekannt ist, zu einer Einrichtung der sozialen
Organisation, politischen Verwaltung und ideologischen Vorherrschaft
machten, legt er die Betonung auf ein methodologisches Konzept von
Geschichte und berücksichtigt dabei besonders die Dialektik
der Geschichtsschreibung und die Geschichte der Unterdrückten,
die sich mit hermeneutischen Mitteln erschließen lässt.
Das Schreiben selbst und mit ihm die aufgezeichnete Geschichte sind
Mittel der Regierung der herrschenden Klasse, der Priester. Epistemologisch
gesprochen hat es die nicht nur die Tendenz sich mit dem zu überlappen
und ein wenig alles zu verbergen, was dann als "Vorgeschichte"
oder "Nicht-Geschichte" bezeichnet werden muss, es entsteht
auch unter Bedingungen, wo die Verdrehung der Geschichte allmählich
erklärte Absicht wurde.
Dies betrifft sowohl die Zeiten vor der Entwicklung der Schrift,
als auch Völker und Gebiete, die keine Schrift besitzen (bis
sie in einem manchmal deutlich späteren Abschnitt durch ein
sich ausbreitendes Reich unterworfen werden). Geschriebene Geschichte
ist auf diese Weise Geschichte, die gegen die Geschichte der Menschen
der arbeitenden Massen, Sklaven und Bauern geschrieben wurde, gegen
die Geschichte der "Anderen", der ethnisch Unterdrückten.
Und bis heute gegen die Geschichte des Geschlechts, der versklavten
Frau. Es ist "die Geschichte des Verbrechens". Die Grundbedingungen
all dieser Formen der Unterdrückung entstehen in Sumer genau
zu der Zeit, zu der die Schrift aus dem "Geröll der archäologischen
Stätten auftaucht". Die Entwicklung der Schrift und die
Überlieferung ihres Gebrauchs sind eng verknüpft mit dem
Prozess der Entwicklung von Mechanismen für das Sammeln, die
Verwaltung, Aneignung und Gewinnung eines sozialen Überschusses,
eines Prozesses, der gleichzeitig Formen und Institutionen zur Unterdrückung
der Frauen in Tempel und Familie entwickelt, die Unterdrückung
der sich schindenden Massen in der Klassengesellschaft, die Unterdrückung
von Bauern, Nomaden und Mitgliedern anderer ethnischer Gruppen in
Territorialstaaten und sich ausdehnenden Reichen. Öcalans Interesse
an den Anfängen der Geschichte ist zudem von unmittelbarem
praktischen Wert für die emanzipatorischen Bemühungen
seiner Bewegung zu einer Zeit, wo diese ihren Anspruch verteidigt,
den Mythos vom "Ende der Geschichte" anzufechten. Als
Öcalan sich noch in Syrien aufhielt, sagte er einmal während
eines Unterrichtsgesprächs über Geschichte:
"Das Ende enthält im Grunde den Anfang,
andersherum gesagt, Merkmale, die in den Anfängen der Geschichte
auffindbar sind, zeigen offenkundig ihre Gegenwart am Ende...
"Ein Ansatz, der die Tatsache erläutert, dass Geschichte
im Heute verborgen ist und wir in den Anfängen der Geschichte,
kann uns helfen, unseren Weg zu finden. Er beinhaltet die Chance,
den falschen Kurs zu beenden, den die Geschichte nimmt, seine Schwindel
erregende Geschwindigkeit."
Die Tatsache, dass sich Abdullah Öcalan auf eine Kritik der
Zivilisation konzentriert, wäre weniger überraschend,
wenn man Zugang zu einigen seiner früheren Texte hätte,
insbesondere zu Aufzeichnungen von Unterrichtsgesprächen mit
Parteikadern, in denen er fortschrittliche und authentische Ideen
in Fachgebieten wie Philosophie, Geschichte, Pädagogik, Sozialpsychologie,
Geschlechterstudien und Kulturtheorie entwickelte. Einiges davon
wurde zwar auf Türkisch veröffentlicht, jedoch nichts
auf Englisch oder in einer anderen europäischen Sprache.
Selbst zu Zeiten, als sich der Krieg auf dem Höhepunkt befand,
ermutigte Öcalan seine Leute, schöpferisch über Fragen
im Umkreis der Geisteswissenschaften nachzudenken:
"Wir sind nicht nur mit Politik befasst, sondern wir versuchen
Grundprobleme des Lebens zu lösen... Wenn in unserem Leben
Krieg eine wichtige Rolle spielt, dann weil im gegenwärtigen
Stadium starre Prinzipien und bloße Moral uns nicht ein einziges
Jahr durchstehen lassen würden... Es ist der Ernst der sich
abzeichnenden Gefahren, die die Menschheit zu verschlingen drohen,
der mich gezwungen hat, bis zu diesem Punkt zu kommen."
Wenn man 'From Sumerian Theocracy towards a People's Republic' liest,
wird deutlich, dass Öcalan die "erfundene Tradition"
einer kurdischen Nation aus einem Guss in der Geschichte als einzige
Bewohner des Bodens, der jetzt die Streitfrage zwischen PKK und
Türkischer Republik bildet, verächtlich ablehnt.
Seine Perspektiven der Befreiung sind nicht eindimensional auf historisch
legitimierte Ansprüche auf ein Heimatland der Kurden gegründet.
Vielmehr erkennt er die Realität einer multiethnischen Struktur
an, die als Modell für eine demokratische Föderation der
Völker des Mittleren Ostens dienen kann. Er betrachtet alle
Völker und Gesellschaften des Mittleren Ostens als Produkt
der Verschmelzung und des Verkehrs verschiedener Kulturen, Traditionen
und Stämme. Die Entwicklung einer ethnischen und, in einem
viel späteren Stadium, nationalen Identität ist für
ihn eine Schutzreaktion der Stämme gegen aggressive Versuche
expandierender Reiche, sie einzuverleiben und zu versklaven.
Seine Ideen drücken eine fundamentale Ablehnung dessen aus,
was er einen "primitiven Nationalismus" nennt und wie
eine begeisterte Herausforderung eurozentristischer Ideen zu einer
Lösung der kurdischen Frage und "ihrer Nachahmung durch
Intellektuelle der Peripherie", mit den Worten des Argentinischen
Philosophen der Befreiung, Enrique Dussel.
Das Buch enthält ferner eine detaillierte Analyse des Feudalzeitalters,
in dem der Islam im Osten entstand, der Geburt des Kapitalismus
in Europa und seine Ausbreitung über die ganze Welt und sucht
nach konkreten, lokalen Wegen zu einer globalen Alternative dazu.
Öcalan stand dem "Realsozialismus" immer kritisch
gegenüber und betrachtete ihn als ein System, das die Bedürfnisse
der Menschen nach individueller Freiheit und Demokratie nicht erfüllen
konnte, dessen Begrenztheiten so zu seinem eigenen Ende beitrugen.
Diese Kritik bedeutet allerdings keine Ablehnung des Sozialismus,
sondern will einen Beitrag für einen Sozialismus leisten, der
diese Bedürfnisse erfüllt:
"Bei der Analyse von Sklavenhaltergesellschaften habe ich niemals
das Ziel aus den Augen verloren, zu zeigen, dass die Analyse des
Kapitalismus als isoliertes Element, um zu Schlussfolgerungen für
oder gegen dieses System zu kommen, eine Methode ist, die ernsthafte
Mängel hat. Was der Kern des Kapitalismus ist und welche Erfahrungen
man mit ihm gemacht hat, ja auch mit dem "Realsozialismus"
insoweit er realisiert wurde, ist im Grund nichts als eine allgemeinere
und entwickeltere Form von "Zivilisationsmerkmalen", der
Erfindungen, die in den Sub- und Superstrukturen des sozialen Aufbaus
der Sklaverei und des zugrunde liegenden Substrates verwirklicht
sind."
Die Suche nach einem alternativen System bedeutet somit, dass man
die materiellen und geistigen Voraussetzungen in Frage stellen muss,
mit denen der Entwicklungsprozess dieser "Grundmerkmale der
Zivilisation", mit all seinen gegenläufigen und häufig
zerstörerischen Entwicklungen, die Menschen in allen Gesellschaften
in jeweils besonderer Weise ausgestattet hat. Für die Kurden
und andere Völker des Mittleren Ostens erfordert dies eine
geistige Revolution. Für westliche Intellektuelle ist kaum
weniger notwendig:
"Alle Vergleiche zeigen, dass die Zerstörung, Folter,
Hungern und Krankheiten, die von den Menschen im zwanzigsten Jahrhundert
zustande gebracht wurden, die Summe all dessen in den vorhergehenden
Jahrhunderten übersteigen. Dies zeigt, wenn wir uns also wirklich
verantwortlich fühlen gegenüber Geschichte und Gesellschaft,
dann gilt es, die Paradigmen unseres Zeitalters, die Methoden, auf
denen sie beruhen, die Werke, die sie hervorgebracht haben, das
damit verknüpfte Konzept der Naturwissenschaften und besonders
auch seine Anwendung einer radikalen Selbstkritik zu unterziehen."
Öcalan fordert eine Selbstkritik, die keine Abkehr von menschlichen
Befreiungsutopien bedeutet, sondern vielmehr eine Reflektion der
geistigen und sozialen Voraussetzungen, die sie geformt haben und
der Mittel, sie zu verwirklichen. Er fragt nicht, ob emanzipatorische
Projekte realisierbar sind oder nicht, sondern wie brauchbar die
bisher zu ihrer Realisierung verwendeten Instrumente gewesen sind.
Dies bedeutet im Hinblick auf den Staatsapparat: "Ich werde
niemals meinen Frieden machen mit dem Instrument des Staates (als
klassischem Instrument der Klassenherrschaft) als im Gegensatz stehend
zu den Menschen und der Gesellschaft... Ich werde nicht in die Falle
des Realsozialismus gehen. Den Staat durch eine Gegenkraft zerschlagen
und einen neuen an seiner Stelle errichten zu wollen ist Selbstbetrug.
Ich werde mich statt dessen darauf konzentrieren, wie man die Gesellschaft
mit Hilfe ziviler Formationen verwalten und sich dabei auf die Koordination
und technische Organisation der Gesellschaft als ganzer verlassen
kann, ohne auf physische und bewaffnete Gewalt zurückgreifen
zu müssen."
Pelsin Torhildan, eine Sprecherin der Partei Freier Frauen (PJA),
einer autonomen politisch-militärischen Partei, die von kurdischen
Frauen gegründet wurde, die ihre Ausbildung im Rahmen ihrer
Beteiligung am Kampf der PKK erhielten, kommentiert Abdullah Öcalans
Thesen so:
"Der Staat ist ein Modell, dessen Charakter durch männliche
Vorherrschaft vergiftet ist... Unter den gegebenen Umständen
ist der Staat ein Apparat, der die Frau mehr als jeden anderen zur
Sklaverei verurteilt, und gegen sie, mehr als gegen jeden anderen,
ungleiche, repressive und ausbeuterische Gewalt einsetzt... Es gibt
keinen Aspekt an ihm, in dem die Frau sich selbst wiederfinden könnte,
der ihr erlaubte sich auszudrücken und zu verwirklichen. Der
Staat selbst schafft immerfort die Wirklichkeit, die uns in Form
der traditionellen Gesellschaft gegenübertritt. In diesem Sinne
sind traditionelle Gesellschaft und Staat zwei Institutionen, in
denen es objektiv keinen Platz für Frauen gibt. Deshalb und
aus Sicht der historischen Wirklichkeit der Frau dient es der Situation
mehr, wenn sie sich in der dritten Sphäre wiederfindet. In
Anbetracht des Freiheitsstrebens der Frauen, das sich in dem gerade
begonnenen Jahrhundert entwickelt, entsprechen die praktischen Aktivitäten
dieser Ansicht..."
"...Die neuesten politischen Entwicklungen (nach dem 11. September
2001) haben wieder einmal gezeigt, wie notwendig und dringend Organisation
in der dritten Sphäre ist. Wir glauben, dass die Theorie der
dritten Sphäre die Theorie der Selbstverwirklichung der Frau
ist, dass man sie die Sphäre ihres eigenen Willens, ihrer Kraft
und Befreiung nennen kann..."
"... Die Partei freier Frauen PJA ist der deutlichste Beweis,
dass man dies erreichen kann. Heute ist die kurdische Frau und ihre
Partei, die am besten organisierte Kraft in der ehrgeizigen Auseinandersetzung
um die Führerschaft bei der Demokratisierung der Gesellschaft
des Mittleren Ostens. Als eine Bewegung, die im Mittleren Osten
entstanden und ihre Kraft aus den historischen Werten bezieht, die
sich dort angesammelt haben, ist einer der grundlegenden ideologischen
Ansätze der PJA, ihren Freiheitskampf und alles Schöne,
das er schaffen wird, mit allen Frauen des Mittleren Ostens zu teilen,
seien sie aus Arabien, Persien, Armenien, der Türkei, Syrien
oder einem anderen Land. Seine Basis ist wissenschaftlich und rechtmäßig
und kann nur gestärkt werden und wachsen, um mit den gemeinsamen
Anstrengungen aller Frauen des Mittleren Ostens die bestmögliche
Zukunft zu schaffen. Die Erwartungen und Hoffnungen waren noch nie
so groß..."
"...In diesem Sinne ist die neue ideologische Identität,
die geschaffen werden soll, notwendig eine weibliche Identität,
da die Vorbedingung einer Demokratisierung des Mittleren Ostens,
einer neuen zivilisatorischen Entwicklung, die Erneuerung seiner
ideologischen Identität ist und bedeutet, dass es ihm gelingt,
sich selbst als Alternative aufzubauen..."
"..Eine Ideologie aus den eigenen kräftigen historischen
Wurzeln der Region hervorzubringen ist der Kern einer radikalen
Lösung ihrer Probleme. Die Kultur der Mutter Gottheit im Mittleren
Osten repräsentiert die Ideologie jenes Zeitalters und bildet
eine starke Grundlage. Sie erhält ihre Kraft aus den Werten,
die sie der Menschheit mitgegeben hat, aus ihrer Liebe zur Freiheit
und ihrem Verständnis der Gerechtigkeit. Während sich
die neue ideologische Identität der Frau bildet, muss man sich
auf diese historischen, kulturellen Werte verlassen und sich an
ihren Farben erfreuen. Sei es die Wirtschaft, Politik, Recht, Kultur
und Kunst, Gesellschaft, Familie, Umwelt - die Frau muss sich darin
widerspiegeln mit Hilfe alternativer Projekte, die sie aufbauen
muss. Dies kann sie praktisch erreichen, indem sie die Zivilgesellschaft
entsprechend der Wirklichkeit im Mittleren Osten organisiert. Denn
die Zivilgesellschaft ist eine Formierung der Individuen, die ihre
Rechte einfordern und nach ihrem eigenen Willen handeln. Damit die
Umformung der Gesellschaft und die Wiedergeburt der Gesellschaft
als Demokratie gelingen, muss sich die Frau organisatorisch dafür
einsetzen sie beständig stärken."
Die Bemerkungen von Torhildan lesen sich wie eine Antwort auf Abdullah
Öcalans Gedanken über die kurdische Gesellschaft in seinen
Eingaben an den ECHR. Dort drückt er seinen Respekt für
die neugegründete PJA so aus: "Sie haben einen historischen
Schritt getan auf dem Weg in die Selbstbestimmung. Dies ist ein
sehr wichtiges Mittel, um Widersprüche aufzudecken und zu lösen."
Dennoch sei es außerordentlich wichtig, dass sie ihre ideologische,
programmatische und praktische Linie auf eine "Analyse der
historischen und zeitgenössischen Dimensionen der Geschlechterfrage
in der wissenschaftlichen Betrachtung gründeten", stützten,
die dem historischen und sozialen Inhalt der mittelöstlichen
Mythologie, Religion und Philosophie ihr Recht gebe.
Wie Pelsin Torhildan anerkennt, verdankt die PJA Abdullah Öcalan
"eine Methode der Ausbildung, die bei Frauen die Fähigkeit
entwickeln will, ihren Körper zu lieben und ihm zu vertrauen,
ihren eigenen Verstand zu benutzen und ihre Gedanken zu ordnen,
ihre Seelen von bedeutungslosen Sorgen, Ängsten, Tabus und
vorgetäuschter Liebe von Zehntausenden von Jahren zu befreien
und auf diese Weise ihre Emanzipation voranzutreiben." Dann
fügt sie hinzu, "der Prozess z.B. des Aufstellens einer
Frauenarmee war für uns gleichzeitig ein viel stärkerer,
wirkungsvollerer und erfolgreicherer Erziehungsprozess als er durch
irgendeine andere soziale Umgebung, Schule oder Lehrer jemals erreicht
werden könnte." [...] "Eine Frau", so meint
sie, "die den Wert und die Schönheit erreicht, die sie
verdient, wird gleichbedeutend sein mit einem sich erhebenden, demokratischen
Mittleren Osten, der seine Probleme friedlich löst."
Wenn er auf sein politisches Leben vor der Entführung zurückschaut,
erinnert sich Abdullah Öcalan, dass die Aktivitäten der
Bewegung für "die Freiheit der Frau [...] die schwierigsten
waren, soweit es mich betrifft; sie verdienen Vorrang vor allen
Aktivitäten für die Befreiung der Heimat und der Arbeit.
Die Frau war das am radikalsten unterdrückte Objekt der Reaktion
und der Sklaverei. Oberflächlich betrachtet scheint es, als
sei der Unterschied zwischen den Geschlechtern zur Rechfertigung
gemacht worden für Ungleichheit und Unterdrückung. Ein
tieferer Blick in die Geschichte zeigt allerdings, dass Frauen die
ersten Opfer überhaupt von sozialer und politischer Dominanz
waren. [...] Erst nachdem die Frau versklavt und in ein loyales
und zahmes häusliches Objekt (nicht Subjekt) verwandelt worden
war, kam die Zeit, die Klassengesellschaft zu schaffen und den Staat."
Auf diese Weise wird die Einheit von historischer Analyse und täglicher
politischer Arbeit in der Theorie von Abdullah Öcalan immer
aufrechterhalten ebenso wie in der Theorie der Freie Frauen Partei,
die von seinen Ergebnissen angeregt wurde.
Im zweiten Band der Arbeit wird die konkrete Situation der Kurden
genauer diskutiert. Praktische Vorschläge für eine Lösung
werden entwickelt. Dabei wird der analytische Kontext berücksichtigt,
mit dem der Imperialismus die Kurden "geteilt und beherrscht",
mittels ständiger Verschwörungen unterdrückt. Auf
diese Weise legt die Analyse jeder Tragödie in der langen Geschichte
der Kurden eine Chance der Befreiung in revolutionärem Handeln
offen: "Sehnsucht nach Geschichte, wiederherstellen, was von
der Geschichte ausgelöscht wurde, tun was bisher in der Geschichte
nicht getan werden konnte, das hat unseren Handlungen den Stempel
aufgedrückt," sagte Öcalan einmal, als er noch frei
war. Die Rolle, die die europäische Menschenrechtsgesetzgebung
bei der Lösung der kurdischen Frage spielen kann, wird kritisch
untersucht: "Es wird nicht einmal möglich sein, die Wirklichkeit
vollständig zu sehen, wenn wir uns selbst in der Realität
der Türkei oder auch der des Mittleren Ostens begraben. Es
ist sehr wichtig, nach der Wurzel des Problems zu sehen und nach
einer Lösung in der europäischen Zivilisation zu suchen."
Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit Öcalans persönlichem
Leben während des Aufbaus der Organisation seit ihren Anfängen
als einer Studentengruppe um 1973 bis zu ihrer Entwicklung zu einer
internationalen Bewegung, die zum Ausdruck der Identität eines
Volkes wird. Während der erste Band eine weitgehend theoretische
Analyse liefert, beschäftigt sich der zweite Teil intensiv
mit praktischen Vorschlägen für kurdische Politik. Öcalan
macht jedoch klar, dass es sich dabei nur um Vorschläge handelt
und dass er nicht einverstanden ist damit, wir sehr sich die kurdische
Bewegung ihre Politik auf seine Person und seine Situation konzentriert.
DIE GEGENWART
Die Angriffe des 11. September 2001 fanden statt, als die Eingaben
für den ECHR gerade konzipiert und vorbereitet wurden. Von
diesem Zeitpunkt an wurden anstelle der "Synthese der Zivilisationen"
und von Demokratisierung und Versöhnung der "Kampf der
Kulturen", der "Kreuzzug gegen den Islam" und der
"Krieg gegen den Terrorismus ganz oben auf die Tagesordnung
gesetzt. Die PKK hat diese grausamen Angriffe auf Zivilisten unmissverständlich
verurteilt und die USA aufgefordert als Antwort auf diese Situation
ihre Mittelostpolitik zu überdenken. In einer Erklärung
für eine überregionale deutsche Tageszeitung sagte Duran
Kalkan, einer der Parteiführer, internationale Initiativen
seien notwendig, um sowohl den islamischen Extremismus als auch
die amerikanische Aggression einzudämmen und um zu helfen,
Frieden und Demokratie im Mittleren Osten zu etablieren. Kalkan
betonte, der israelische Staatsterrorismus und die wahllosen Angriffe
von fanatischen Palästinenserorganisationen auf Zivilisten
hätten gegenseitig Gewalt und Zerstörung in so große
Wut, Hass und Nationalismus gesteigert, dass dies eine ernsthafte
Bedrohung der Menschlichkeit darstelle. Diese Erklärung wurde
nie veröffentlicht. Statt dessen diskutierte die Europäische
Union, ob Vermögenswerte der Organisation im Zuge des "Krieges
gegen den Terrorismus" eingefroren werden sollten. Ganz wie
der israelische Sprecher, der der Zeitschrift "The Economist"
zu Protokoll gab, die Angriffe des 11. September seien ja wohl das
größte Public-Relations-Ding zugunsten von Israel in
den letzten zehn Jahren. Die Türkei verlangte sofort, die Kurden
dürften von der Kampagne des Westens nach Artikel 5 des NATO-Statuts
nicht ausgenommen werden, und ließen es sich nicht nehmen
zu erklären, all die Menschenrechtsverletzungen, für die
man die Türkei in der Vergangenheit milde getadelt hatte, könnten
rückblickend jetzt als legitimiert betrachtet werden.
Bereits vor dem Beginn der Bombardierung von Afghanistan, hatten
Vertreter der PKK gewarnt "Afghanistan ist nur die Probe, der
wirkliche Krieg wird gegen den Irak stattfinden." Wenn auch
der Sturz des irakischen Regimes des Kurden einen gewissen Status
bringen würde, so forderte man kurdische Organisationen doch
auf, sich amerikanischen Bemühungen, sie zu instrumentalisieren,
zu widersetzen. Die internationale Gemeinschaft insgesamt wurde
aufgerufen, das Kriegstreiben zu beenden und sich allen Initiativen
entgegenzustellen, die das Ziel hätten, entlang des Gürtels
von Pakistan nach Libanon vollständige amerikanische Vorherrschaft
aufzubauen. Nur eine freie Verbindung der mittelöstlichen Staaten
könne die Wurzeln der Probleme beseitigen, die zum 11. September
geführt hätten. Gleichzeitig jammerte die Türkei
über die Aussicht eines kurdischen Staates, der im Nordirak
etabliert werden könnte im Zusammenhang mit einer Intervention.
Gleichzeitig bekräftigte sie ihre volle Unterstützung
für den "Krieg gegen den Terror". .Die gesamte Führung
war bis Januar 2002 in die USA gereist, um zusätzliche Kredite
für die Wirtschaft zu sichern. Frühere Erklärungen
der türkischen Führung lassen vermuten, dass dabei auch
Forderungen nach amerikanischer Rückendeckung für ein
türkisches Vorgehen gegen die PKK-Verbände im Nordirak
auf den Tisch kamen. Ecevit äußerte "die Türkei
wird an der Operation teilnehmen, ob sie das nun will oder nicht.
Was dann an der Börse geschieht, weiß Gott allein."
Offensichtlich waren aber beide Seiten sehr zufrieden mit dem Ergebnis
der Gespräche. Journalisten ließen jedoch erkennen, dass
es unwahrscheinlich sei, dass die USA ihr Konzept an türkische
Wünsche anpassen.
Analytiker nehmen an, die PKK sei militärisch stark genug,
um sich für den Fall eines bewaffneten Angriffs auf ihre Lager
im Nordirak zu verteidigen. Die Organisation erklärte, sie
sei auf alle Eventualitäten vorbereitet, werde sich aber an
ihr Prinzip aktiver Selbstverteidigung halten. Angesichts der bevorstehenden
Irak-Intervention, hielten es die türkischen Sicherheitskräfte
für richtig, alles zu tun, um zum Konzept '93 zurückzukommen.
Um europäischen Forderungen zu genügen verabschiedete
das Parlament im Oktober 2001 vierunddreißig Verfassungsänderungen,
die in den Nachwehen des Militärputsches von 1980 vorgelegt
worden waren, u.a. eine Begrenzung der Höchstdauer von Polizeigewahrsam
auf vier Tage in Übereinstimmung mit europäischen Standards.
Die Staatsschutzabteilung der Gendarmerie begann jedoch sofort damit,
eine zweifelhafte Verordnung anzuwenden, nach der der Polizeigewahrsam
jeweils um 10 Tage ausgedehnt werden konnte, wenn es um "Notstands"-Situationen
ging. Bisher wurden 12 Personen in den Ostprovinzen für bis
zu 44 Tage zum Verhör festgehalten und dabei fortlaufend schwer
gefoltert. Ein Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir entschied,
diese Verordnung setze die Verfassungsvorschrift außer Kraft.
Seit September gibt es eine Zunahme willkürlicher Festnahmen
kurdischer politischer Aktivisten. Wieder einmal sind die Kurden
auf den Beinen und fordern ihre Bürgerrechte. Die kurdischen
Frauen haben angefangen auf den Strassen traditionelle kurdische
Kleider zu tragen und Kurdisch zu sprechen. Als Studenten eine Kampagne
mit dem Ziel der Einführung von Kurdisch als Wahlfach in den
Universitäten begannen und dazu individuelle Anträge bei
ihren Rektoraten einreichten, folgten über 10.000 Studenten
ihrem Beispiel, darunter auch eine große Zahl von Türken
und Studenten anderer sprachlicher oder ethnischer Herkunft. Ähnliche
Anträge wurden zu Hunderten von den Eltern von Schülern
bei den Schulbehörde ihrer Wohngebiete eingereicht. Das Ancien
Regime hat jedoch deutlich gemacht, wie sehr es sich vor einer Bürgerrechtsbewegung
fürchtet, gerade auch wenn sie von Kurden angeführt wird,
ungeachtet der jüngsten Verfassungsänderungen, mit denen
die Bezeichnung "verbotene Sprachen" abgeschafft und der
Gebrauch des Kurdischen und seine Verwendung in Funk und Fernsehen
erlaubt wurde. Die Petitionen der Studenten werden mit dem Hinweis
kriminalisiert, sie seien nur ein Mittel der PKK bei ihren Bemühungen,
sich selbst als politische Organisation zu etablieren. Die Staatsanwaltschaften
wurden im Januar 2002 vom Innenministerium angewiesen, alle Studenten
und Eltern, die derlei Anträge einreichten, wegen "Mitgliedschaft
in einer terroristischen Organisation" anzuklagen. Hierauf
stehen bis zu zwölf Jahre Haft. Bis zum 23. Januar waren 85
Studenten und mehr als 30 Eltern schon im Gefängnis und mehr
als 1000 Menschen, darunter viele Jugendliche, festgenommen. Der
HADEP wurde eine Frist von 30 Tagen gewährt, um ihre letzte
Eingabe für das Verfahren zu machen, in dem es um die Schließung
dieser Partei geht. Das Verfahren ist bereist seit 1998 anhängig.
Ob es nun zu eine Schleißung kommt oder nicht, die Verteidigung
will jetzt in jedem Fall die derzeitige Ungewissheit beenden. Das
Buch eines amerikanischen Autors über amerikanischen Interventionismus
wurde indiziert, weil es feststellt, dass Tausende kurdischer Dörfer
im Verlaufe verschiedener Feldzüge der Armee gewaltsam geräumt
und zerstört wurden, was selbst von der Migrationskommission
des türkischen Parlaments zugegeben wird. Selbst wohlbekannte
Fakten dürfen offensichtlich nur kritikfrei wiedergegeben werden.
Der Aram Verlag bedient in der Hauptsache ein basisorientiertes
Publikum. Möglicherweise wurde dieses spezielle Buch indiziert,
weil es eine amerikanische Politik kritisiert, die schwere Verbrechen
an den Kurden ermöglicht hat. Jedenfalls muss sich der Verleger
des Buches jetzt vor Gericht verantworten und mit bis zu sechs Jahren
Gefängnis rechnen.
Am 14. Januar 2002 veröffentlichten die türkischen Sicherheitskräfte
eine Erklärung mit einem Ultimatum an die PKK, sie solle beweisen,
dass ihre Absicht, "die Türkei nicht zu spalten"
ernst gemein sei. Weiter heißt es, alle Initiativen im Hinblick
auf Kurdisch als Wahlfach an Schulen und Universitäten seien
von "der Terrororganisation PKK" inszeniert und keineswegs
"eine harmlose Forderung nach kulturellen Rechten" sondern
Teil des "Plans die Türkei zu teilen." Sobald erst
einmal gefordert werde, die Kurden hätten ein Recht auf Unterricht
in Kurdisch, "sie sind ja schließlich Kurden", dann
seien auch Forderungen nicht mehr fern wie "Kurden sollten
kurdische Geschichte und Geographie auf allen Stufen des Bildungssystemslernen",
"kurdische Geschäftsleute sollten sich zusammenschließen",
"man sollte kurdische Anwaltskammern einrichten". Dies
schaffe, natürlich, Teilung und Spaltung, die sich auf die
Gesellschaft auswirken werde. Am Ende stehe der Terrorismus. Was
aber sollen die Kurden tun, um zu beweisen, dass sie nicht die Absicht
haben, die Gebiete östlich des Taurus abzutrennen? Alle kurdischen
"Organisationen, die im Ausland tätig sind, müssen
das Wort Kurdistan aus ihren Namen streichen". Der Fernsehsender
Medya-TV darf in seinen Nachrichtensendungen nicht mehr unsere südostanatolischen
und ostanatolischen Gebiete "kurdische Provinzen" nennen,
nicht auf Türkisch und auch nicht in den beiden kurdischen
Dialekten.
Dieser Nachrichtensender soll nicht mehr ausschließlich nur
die Wetterlage über den erwähnten Gebieten zeigen. Der
Kurdische Nationalkongress muss aufgelöst werden und Projekte
wie ein Institut für kurdische Philologie, eine kurdische Enzyklopädie
oder auch ein kurdischer Wirtschaftskongress müssen beendet
werden. Armenische oder aramäische Gruppen, die gegen die Türkei
international zu Felde ziehen, dürfen nicht unterstützt
werden. Schließlich heißt es: "Alle Mitglieder
der Terrororganisation müssen ihre Waffen niederlegen und sich
den Sicherheitskräften stellen." Weniger als das, so klingt
es unausgesprochen in der Erklärung mit, bedeute den casus
belli.
Eine Woche später antwortete die PKK-Führung auf dieses
"Ultimatum" mit der Bemerkung, bei dem Wort "Kurdistan"
handele es sich um eine geographische Bezeichnung, die sich nicht
auf politisch getrenntes Land beziehe und rief die Kurden auf, von
ihren verfassungsmäßigem Recht Gebrauch zu machen, und
rechtlich gegen Fehlgriffe der Justiz im Zusammenhang mit den Petitionen
vorzugehen. Im Übrigen sei diese Erklärung, selbst wenn
man sie als eine Art Versuch werte, in einen Dialog zu kommen, doch
eher etwas rückständig: Die türkischen Behörden
hätten ja wohl mittlerweile merken müssen, dass die Kurdische
Frage zu ernst sei, als dass man sie auf solch lächerliche
Weise abhandeln könne. Nichtsdestoweniger sei man bereit nachzudenken,
falls im Gegenzug die Regierung auch kurdische Forderungen erfülle:
"... Zuerst müssen die Bedingungen, unter denen die Kurden
leben müssen verbessert werden. Sie müssen mehr Freiheiten
bekommen. Zweitens, wenn die Regierung will, dass die Guerilla ihre
Waffen niederlegt, muss sie eine Generalamnestie erklären.
Niemand möchte verhaftet und gefoltert werden - und schon gar
nicht unsere Guerillas, die selbstbewusst, entschlossen und gut
ausgebildet sind..."
Die Frage also bleibt: Muss man sich wirklich für einen neuen
Krieg entscheiden oder reicht es laut auszurufen, dass der Kaiser
nackt ist?
Istanbul im Januar 2002
Geschrieben von einem Kollektiv von Journalisten und wissenschaftlichen
Mitarbeitern im Namen des Aram Verlages.